Plädoyer für mehr Mitgefühl

Von Blanka Weber |
Der Vorabend des Kunstfestes in Weimar steht traditionell im Zeichen des Gedenkens. Die Gastrede in diesem Jahr sollte Arno Lustiger halten, doch der Historiker, der mehrere Konzentrationslager überlebte, verstarb im Frühjahr – und so übernahm mit Marian Turski ein guter Freund diese Aufgabe.
„Die Nummer B 09408 war mir in Auschwitz gegeben – und sie können sie noch jetzt anschauen…“

Er zeigt die Innenseite seines linken Unterarms. Verschwommen ist die Zahl zu sehen. Dieser Schmerz, lächelt er ein wenig, war der geringste in der ganzen Zeit:

„Verhungern, das war schrecklich, aber nicht das schlimmste. Kälte war schrecklich, damals in Auschwitz.“

Marian Turski ist im Juni 88 Jahre alt geworden. Geboren wurde er in einer kleinen Stadt in Litauen. Ab 1942 lebte er im Łódźer Ghetto, wurde von dort aus ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Er überlebte – als einer der wenigen – den Todesmarsch von dort nach Buchenwald. Der zierliche Mann mit den wachen, dunklen Augen ist einer wenigen, einer der letzten Zeitzeugen. Er sagt von sich:

„Ich möchte kein Moralist sein.“

Sein Thema am Abend – heute in der Weimarhalle: die jüdische Résistance – der Widerstand im Ghetto – damals – wann begann er, wie setzte er sich durch und wer hatte den Mut. Es ist ein Thema, sagt Marian Turski, über das er viel nachgedacht und auch gestritten habe – auch mit jenem Mann, den er an diesem Abend vertritt – Arno Lustiger:

„Bis jetzt gibt es keine Antworten, das sind große moralische Fragen.“

Wie haben die Menschen damals im Ghetto, eine halbe Millionen Juden, davon erfahren, was die deutschen Besatzer als Endlösung bezeichneten. Turski suchte am Abend nach Antworten:

„Und jeder musste eine Entscheidung für sich treffen, über seinen eigenen Körper, über sein eigenes Leben, über seinen eigenen Tod, meine unsere Freundin – Häftling in Birkenau – Halina Birenbaum nannte ihre Memoiren: ‚Die Hoffnung stirbt zuletzt‘. Das war für jeden einen die Wahrheit. Angst und Einschüchterung – das ist das Geheimnis des Terrors.“

Marian Turski hat den Terror überlebt, engagiert sich seitdem für Organisationen und Vereinigungen, unter anderem im Internationalen Auschwitzrat. Zum zweiten Mal sei er – nach Buchenwald – an diesem Tag in Weimar. Er wählt vorsichtig seine Worte, politisch möchte er nicht werden – auch nicht zur Gegenwart. Seine Botschaft ist einfach:

„Was habe ich im Kopf, wenn ich von Gedächtnis Buchenwald, Auschwitz-Gedächtnis, Ghetto-Gedächtnis denke, dann denke ich: Leute, ein bisschen mehr Empathie, Mitleid, Mitgefühl, dann gibt es eine Chance, das wir so was vermeiden können.“

Der Abend stand auch musikalisch im Zeichen der polnischen Musik.

Es schien uns wichtig, so Nike Wagner, ein Werk aus dem polnischen Widerstand zu wählen. Gespielt wurde es vom New Warsaw Trio. Ein Werk, dass 1944 in Warschau uraufgeführt worden ist, erklärte die Intendantin des Kunstfestes, ihre Auswahl:

„Der Komponist riskierte viel bei dieser geheimen privaten Uraufführung und von deren sensationellen Erfolg Witold Lutoslawsky berichtet hat. Regamey konnte aus dem KZ Stutthof in die Schweiz entkommen.“

Ein gelungener Abend nicht nur musikalisch – so die ersten Stimmen der Kritik. Anrufung ist das Motto des Kunstfestes Weimar, das morgen mit einer Matinee eröffnet wird.
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