"Die Uniform macht den Menschen nicht"

Anatol Chari im Gespräch mit Katrin Heise |
Andere Überlebende seien empört, wenn er über seine Privilegien als Gettopolizist oder menschliche Gesten von KZ-Aufsehern spreche, sagt der KZ-Überlebende Anatol Chari. "Hass muss man lernen", sagt der Autor des Buches "Undermensch". Er habe ihn nicht gelernt.
Katrin Heise: Der Jude Anatol Chari, er war gerade 16 Jahre alt, als die Deutschen Polen überfielen, 1939. Seine Familie in Lodz wurde enteignet, sein Vater ermordet und er ins Getto geschickt. Überlebt hat er, weil er sich Privilegien verschaffte. Er arbeitete im Sonderkommando als Gettopolizist, wurde ein sogenannter Sonder. Dadurch bekam er zum Beispiel mehr zu essen, konnte sich Dinge organisieren. Er spricht über den Kampf ums Überleben, über die Privilegien, über die Kollaboration mit den Deutschen, über die Hierarchie unter den Gefangenen. Er spricht da ganz offen drüber in seinem Buch "Undermensch". Er ist zurzeit in Deutschland, und ich habe ihn, den 86-Jährigen, vor der Sendung in seinem Hotel treffen können und mich mit Anatol Chari unterhalten können.
Sie schreiben, dass Sie das Getto und die Lager überlebt haben, weil Sie Glück hatten. Ihr Glück, in Anführungsstrichen, begann schon damit, dass Ihr Vater ein bekannter Mann war, Gemeinderat, und als Sie in das Getto Lodz kamen, reichten sozusagen seine Fittiche – er selber war bereits abgeholt worden ...

Anatol Chari: Ja, der wurde am 10. November 39 von Gestapo abgeholt und in zehn Tagen, zwei Wochen, da er ist nicht mehr da. Schluss und basta!

Heise: Aber sein Einfluss ...

Chari: Ja, der Name.

Heise: Der Name reichte noch und hat Ihnen in gewisser Weise eben Glück gebracht. Was war das für ein Glück, was bedeutete das tatsächlich in so einem Getto?

Chari: Bessere Arbeit, mehr zum Essen, eine gute Stelle in der Sonderpolizei. Das Abitur habe ich im Getto gemacht. Nach dem Abitur, da habe ich in der Gasabteilung geschafft, als Magazineur, Magazinleiter. Und da wurde ich krank, ich hatte Fleckfieber, und nachdem ich mir (…) (Anm. d. Red.: Schwer verständlich im Hörprotokoll) mit Rumkowski seiner Hilfe, sonst wäre ich dort geblieben.

Heise: Herr Rumkowski war der ...

Chari: Der Judenälteste.

Heise: Der Judenälteste, genau.

Chari: Ja, der hatte im Krankenhaus denen Bescheid gesagt.

Heise: Der überhaupt im Getto quasi für Ordnung zu sorgen hatte.

Chari: Ja, er war da alles (Anm. d. Red.: Schwer verständlich im Hörprotokoll). Und er hat mir eine Apfelsine geschickt.

Heise: Eine Apfelsine, ja.

Chari: Es war unglaublich. Unglaublich. Und nachher, da konnte ich mich nicht so ganz erholen, und da bin ich zum Rumkowski, ich möchte einen anderen Posten haben, etwas, wo es zu essen gibt. Ja, was willst du denn, eine Bäckerei und eine Küche oder eine Küche? War mir ja wurscht, gell, solange es was zu essen gibt.

Heise: Hauptsache Lebensmittel.

Chari: Ja. Und da wurde ich in eine Küche versetzt, und ich war in der Küche, bis eben dieses Sonderkommando kam. Und wir hatten einen anderen Laden, wo wir die Lebensmittel lagern, und ich habe zusätzliches Essen als Sonder bekommen, da konnten meine Großeltern die Zuteilung für sich behalten. Es war ein privilegiertes Leben. Im Getto, ich habe es nicht wahrgenommen, dass die Leute so, dass sie davon träumen, eine Suppe zu haben.

Heise: Weil Sie eben etwas hatten. Wie war das eigentlich, die Privilegien, von denen Sie auch gerade sprechen, die Möglichkeit, sich Essen organisieren zu können oder auch eine andere Zuteilung zu haben, haben Ihnen die Chance gegeben zu überleben, aber wie sind die Menschen auch im Getto schon mit Ihnen umgegangen? Sie wussten ja, dass Sie Polizist sind, Sie haben eine Uniform getragen beispielsweise.

Chari: Ja, klar.

Heise: Wie ist Ihnen …

Chari: Die Leute haben sich vorgestellt, dass ich wie ein Prinz lebe, gell?

Heise: Haben Sie Hass gespürt oder sind Sie verachtet worden?

Chari: Ja, wir wurden geachtet, ja. Verachtet weiß ich nicht. Vielleicht waren die Leute eifersüchtig.

Heise: Konnten Sie anderen Menschen helfen, andere, die wussten, die dachten, Sie leben wie ein Prinz, werden Sie ja auch um Hilfe gebeten haben. Wie sind Sie da, wie konnten Sie damit umgehen?

Chari: Sehr, sehr selten. Im Getto glaube ich nicht, dass mich jemand ... Ich war unzugänglich. Wir hatten unsere kleine Gruppe, die Partys und so, Partys. Wir saßen da, haben Zigaretten, wir hatten Zigaretten, wir Sonder hatten Zigaretten, Zigaretten geraucht, war dunkel, weil es Luftschutz. Man hat rumgespielt.

Heise: Als das Getto Lodz geschlossen wurde, da mussten Sie als Sonder, also als Sonderkommando, als Gettopolizist die Menschen ja auch zu den Zügen bringen, wie war das?

Chari: Eigentlich ist jeder freiwillig in den Zug gekommen, ich auch. Auf dem letzten Transport, (…) (Anm. d. Red.: Schwer verständlich im Hörprotokoll), die letzten Transporte war die Polizei. Und der Amtsleiter im Getto, Biebow, Hans Biebow, der sagte, ich gebe Euch mein Ehrenwort als deutscher Offizier, als, der war ein Von, als Adliger, dass Ihnen nichts passieren wird. Wir fahren in ein Arbeitslager oder Gott weiß was.

Heise: Also eine große Beruhigung und ...

Chari: Ja, keiner wusste, keine redet, war nicht, wie in Warschau, in Treblinka, dass die wussten, dass sie in den Tod fahren. Und ja, man wusste es nicht, man wollte es nicht wahrnehmen.

Heise: Ich spreche mit Anatol Chari. Er ist Getto- und KZ-Überlebender. Herr Chari, zuletzt kamen auch die Sondereinheiten nach Auschwitz, auch die Polizisten, und da schreiben Sie, da war es mit Ihren Privilegien auf einen Schlag vorbei, im Gegenteil, ehemalige Gettopolizisten galten da als, unter den anderen Häftlingen als Kollaborateure, sie wurden gejagt, sie wurden umgebracht, das haben Sie zum Teil auch erlebt von Mitgefangenen. Fühlten Sie sich eigentlich als Kollaborateur?

Chari: Jeder, der überlebt hat, war Kollaborateur. Jeder, der überlebt hat, war Kollaborateur. Ob sie das sonst geschafft (Anm. d. Red.: Schwer verständlich im Hörprotokoll) haben wie mein Großvater, der ein Sattler war, oder ein Polizist war, ob Feuerwehr, ob Stroh ... , wir haben Strohschuhe für die Wehrmacht in Sibirien, in Stalingrad in Russland hergerichtet.

Heise: Sie schreiben einmal auch, Sie haben natürlich durch Ihre Arbeit auch das System erhalten, aber hat man überhaupt so was gedacht wie, wir können uns auflehnen oder wir können uns wehren?

Chari: Es war, der Terror war von Anfang an. Wir wussten, als die Waggons zurückkamen, da kam von Zeit zu Zeit ein Stückchen Papier, irgend Notizen: Sie kommen nach Auschwitz. Das ist nicht etwas, was Sie erwarten, was ist schlimm. Als wir in Auschwitz ankamen, an der Rampe, da ging der Zug so ein bisschen hin und her, um den Ausgang, die Waggons dann an der Rampe wirklich geordnet sind. Und da habe ich mir gedacht, vielleicht, vielleicht, vielleicht, vielleicht fahren wir weiter. Und das hat bis ein halbes Jahr oder in ein Jahr nach dem Kriege gedauert. Ich wollte nicht ankommen.

Heise: Sie wollten immer ...

Chari: Ob ich im Zug oder im Bus nach Chicago im Greyhound war, ich wollte weiterfahren, ich wollte nicht ankommen.

Heise: Sie waren noch stark genug zum Arbeiten. Sie kamen dann vom Vernichtungslager Auschwitz gleich weiter in ein Arbeitslager und noch in verschiedene andere Lager, ganz zum Schluss dann in das Todeslager Bergen-Belsen.

Chari: Krepierungslager.

Heise: Sie sagen Krepierungslager, weil Sie, also man hat das Gefühl …

Chari: Das war ratenweise.

Heise: … es kann immer noch schlimmer werden.

Chari: Ja. Ich weiß, wir haben es ja auch im Buch, wir haben die Toten, die Leichen geschleppt, und sie sagten, ich bin müde, ich will mich ein bisschen ausruhen, hat sich hingesetzt, und eine halbe Stunde später haben wir ihn gezogen.

Heise: Ich kann mich an eine Szene erinnern, da beschreiben Sie einen deutschen SS-Mann, der immer heimlich so Brotreste in zerknülltem Papier fallen lässt, damit Häftlinge das noch auflesen können. Und Sie schreiben in dem Zusammenhang, glaube ich, oder vielleicht war es auch bei jemand anders …

Chari: Das war Kaltwasser.

Heise: Und Sie schreiben da zum Beispiel von mitmenschlich oder auch anständig nennen Sie ihn. Das wirkt so unpassend, also auf diese Menschen. Wie denken Sie heute darüber, über solche, über die SS-Männer, über die ... ?

Chari: Das gab keine SS-Männer. Da gab ein Mann, der eine SS-Uniform an hatte, und der Mann da drunter konnte etwas gut oder schlecht sein oder Sadist oder menschlich sich benehmen. Die Uniform macht den Menschen nicht.

Heise: Wenn Sie das so sagen, auch auf so Veranstaltungen, die Sie auch immer wieder mal besuchen, jetzt zu Jahrestagen von Befreiung von Lagern, wenn Sie das zu anderen Überlebenden sagen, auch das Wort anständig, wie sind da so die Reaktionen?

Chari: Nicht immer freundlich. Wie kannst du so was sagen? Genauso: Wie kannst du nach Deutschland fahren? Oder als ich nach Los Angeles kam, da sagte meine Tante, ob ich einen Wagen hätte. Sag ich, ich hatte einen Mercedes. Wie kannst du einen deutschen Wagen fahren? Sage ich, Eva, wie kannst du einen Rosenthal China gebrauchen? Rosenthal-Service und ... Das sind Vorurteile, die man sich ausgewählt hat, gell? Der Wagen ist nicht in Ordnung, aber Porzellan, das geht.

Heise: Sie haben jetzt das Buch geschrieben, Sie sind, seit vielen Jahren schon sprechen Sie zu Schülern, zu Studenten, vor Gruppen, wie reagieren die, die Hörer und die Leser, vor allem eben auch auf das, was Sie ja sagen? Sie sagen ja zum Teil andere Dinge als andere Überlebende. Sie sprechen eben offen von den Privilegien, die Sie für sich genutzt haben. Sie sprechen, ja, auch von dem Spaß, den Sie versucht haben als junger Mensch noch zu haben. Wie reagieren die Leute?

Chari: Normalerweise es wird angenommen, wie es war, dass es keine schlechte Reaktion ist. Nur die Überlebenden, die sagen: Wie kannst du das sagen, warum bist du den Deutschen nicht böse, warum fährst du nach Deutschland, warum ... Hass muss man lernen. Ich habe eben die Stunde in der Schule verpasst. Ich habe es nicht gelernt.

Heise: Bei all dem, wie geht es Ihnen heute?

Chari: Ich habe ein Zeug dazu, ich klage nicht. Im Buch klage ich nicht, im Leben klage ich nicht. Wenn man aus Bergen-Belsen nach Kalifornien kommt, besonders in das Städtchen, wo ich wohne, am Meer, worüber soll ich da klagen? Dass es manchmal regnet?

Heise: Das fragt sich Anatol Chari, KZ-Überlebender. Ich habe ihn gestern in seinem Hotel getroffen. Seine Erinnerungen hat Anatol Chari zusammen mit dem Historiker Timothy Braatz aufgeschrieben, "Undermensch" heißt sein Buch und ist im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen. Morgen Abend können Sie eine Lesung mit anschließendem Gespräch hören mit Anatol Chari, und zwar in Celle, in der Celler Synagoge. Es geht los um 19 Uhr.