Plädoyer für Europa

"Damit kann man Wahlen gewinnen"

Emmanuel Macron
Der französische Präsident Emmanuel Macron am 22. Juni in Brüssel. © pciture alliance/dpa/Foto: Thierry Roge
Claus Leggewie im Gespräch mit Christian Rabhansl |
Der französische Präsident Macron habe es gezeigt: Mit dem Thema "Europa" habe er "gegen eine der biestigsten Nationalistinnen" gewonnen. So viel Entschlossenheit sollten auch andere Politiker aufbringen, findet der Politikwissenschaftler Claus Leggewie. "Europa zuerst!" heißt sein neues Buch.
Christian Rabhansl: "Die Welt im Umbruch" ist heute unser Thema. Und nicht nur die Bücher der heutigen "Lesart" verkündigen den Beginn einer neuen Epoche. Das hat vor über acht Monaten auch der damals neue Mann im Weißen Haus getan:
Einspieler Donald Trump: From this day forward a new vision will govern our land. It is going to be only America First, America First.
Donald Trump bei seiner Inauguration als 45. US-Präsident. "America First", also die Interessen der USA stets und überall an erster Stelle, egal ob es um Außenpolitik, um Handelsabkommen oder um den Klimawandel geht. Das haben viele als Drohung aufgefasst, auch in Europa. Die Antwort darauf, die liegt seit heute in den Buchhandlungen: "Europa zuerst" lautet der Titel. Untertitel: "Eine Unabhängigkeitserklärung". Geschrieben hat das Buch der Politikwissenschaftler Klaus Leggewie. Guten Tag!
Klaus Leggewie: Guten Tag, Herr Rabhansl!
Rabhansl: Sie schreiben selbst gleich zu Beginn, Europa zuerst, das klingt schon sehr nach America First. Es sei aber das Gegenteil. Warum soll das denn bei uns Europäern besser sein, wofür die USA kritisiert werden?
Leggewie: Es reagiert auf einen weißen Nationalismus, den Trump nicht nur in seiner Inauguration Speech ausgerufen hat, übrigens in Anverwandlung durchaus nationalistisch-faschistischer Töne aus dem damaligen Europa. Es ist natürlich eine ironische, eine reflexive Reaktion darauf. Die Antwort auf Trump wäre nicht zum Beispiel der Brexit oder "La France d'abord", "Frankreich zuerst", sondern Europa ins Zentrum rücken. Wir können in der Welt gegenüber solchen Autokraten wie Trump, oder noch schlimmer Putin und Erdogan, nur bestehen, wenn wir als Europäer zusammenstehen. Deswegen ist für uns Europa die erste Priorität. Das ist weder neoimperial noch sonst irgendwie überheblich gemeint. Es ist ein offenes Europa, ein weltoffenes Europa, das mit allen kooperiert, die dazu bereit sind.
Rabhansl: Der Untertitel lautet "Eine Unabhängigkeitserklärung". Historisch mussten sich ja die späteren USA von Europa befreien und haben eben ihre Unabhängigkeitserklärung verfasst. Jetzt eine europäische. Und da lese ich bei Ihnen, Europa werde bedroht, und zwar von Barbaren, von einem antieuropäischen Trio, eben Donald Trump, Recep Tayyib Erdogan und Wladimir Putin. Die drei muss man ja nicht mögen, aber – Barbaren?

"Wir können nicht die Gefolgsleute von Trump und Putin sein"

Leggewie: Ja, das ist aus dem alten Griechenland übernommen. Da war das keineswegs so abwertend gemeint, sondern es waren die Leute, die nicht der griechischen Sprache mächtig sind. Aber natürlich ist es kritisch gemeint. Natürlich finde ich das, was Wladimir Putin zuletzt mit dem Regisseur Serebrennikow gemacht hat, natürlich finde ich das, was Erdogan mit seiner Opposition macht, natürlich finde ich das, was Trump in Charlottesville und anderswo unterstützt, barbarisch in dem Sinne, dass ich sage, das ist kein ziviles Verhalten, das ist nichts, was in freiheitliche Demokratien eigentlich hineingehört. Und deswegen sind, glaube ich, starke Worte durchaus angebracht. Die Unabhängigkeitserklärung ist erstens eine historische. Die Russen und Amerikaner, die das Schicksal Europas im Kalten Krieg bestimmt haben, haben sich als Schutz- und Supermächte zurückgezogen, zum Teil auch mächtig desavouiert. Europa muss selber dafür sorgen, dass wir uns verteidigen, entwickeln, dass wir unsere Freiheit bewahren. Das andere ist natürlich eine Unabhängigkeit genau von jenen Anwandlungen, die diese Protektionisten und Isolationisten nun an den Tag legen, im internationalen Handel, in den internationalen Organisationen. Wir können nicht sozusagen die Gefolgsleute von Trump und schon gar nicht von Putin sein.
Rabhansl: Also Unabhängigkeit von diesem Kampf gegen die Normen, gegen die Institutionen und gegen die Prozeduren der liberalen Demokratie, das lese ich bei Ihnen. Aber auch Sie sind ja mit Europa und mit der EU nicht zufrieden. Sie schreiben, dass wir ein anderes, ein besseres Europa bräuchten, und das fängt ja vielleicht mit einer Mängelbeschreibung an. Auf so einer Mängelliste, was sind die ersten drei Punkte, die Sie auf diese Liste schreiben?

"Europa, die Karte sticht"

Leggewie: Ich will es mal auf die aktuelle Situation beziehen. Wir haben im Moment einen Wahlkampf in Deutschland, den viele langweilig finden. Da kann ich nur zu sagen, machen wir ihn doch interessant, indem wir zum Beispiel über die europäische Dimension sprechen, die in der Regel von den Akteuren in Deutschland gar nicht in den Vordergrund gerückt wird, obwohl wir doch wissen, dass die Probleme, die wir im Finanzmarkt haben, dass die Probleme, die wir bei der Energie- und Verkehrswende haben, dass die Probleme, die wir mit dem internationalen Terror haben, dass die Probleme, die wir mit der Verteidigung Europas zum Beispiel in Ostmitteleuropa haben, dass die nur gemeinsam gelöst werden können. Das heißt, wir suggerieren im Sinne klassischer Wahlkämpfe routiniert die nationale Souveränität, wohlwissend, dass die für die Lösung der wirklich großen Probleme – und ich habe noch gar nicht vom Klimawandel gesprochen – gar nicht ausreichend sind.
Also ich meine, dass in der Tat Europa die Dimension ist, in der wir sprechen müssen, gar nicht das Programm, gar nicht die Reform der Institutionen, sondern das muss das Format sein, in dem unsere Lösungen angedacht sind. Und das würde mir sehr wohl tun, wenn unsere Wahlkämpfe die europäische Dimension in den Blick nehmen würden, zumal einer von ihnen eigentlich dazu prädestiniert ist, der Chef des Europaparlaments, Martin Schulz, sollte das sehr viel deutlicher ins Zentrum seiner Argumentation rücken. Und in Frankreich hat ein Präsidentschaftskandidat unter sehr viel höheren Risiken als unserer Wahlkämpfer Europa ins Zentrum gerückt, gegen eine der biestigsten Nationalistinnen, die wir überhaupt in Europa haben, Marine Le Pen, und hat gewonnen. Das heißt, Europa, die Karte sticht. Ich würde es mal abwandeln, was Bill Clinton mal in seinem Wahlkampf gesagt hat: "It's the economy, stupid". Ich glaube, heute zählt, wie wir Europa stark machen, wie wir Europa voranbringen. Und damit kann man, siehe Paris, Wahlen gewinnen.
Rabhansl: Und das haben Sie in drei Punkte unterteilt. Sie wollen mehr Teilhabe, mehr Solidarität und mehr Nachhaltigkeit in Europa. Dies sind ausgeklügelte Modelle, die Sie da beschreiben. Die können wir jetzt natürlich nur umreißen. Nennen Sie mir doch bitte für jedes dieser Teile einen Kerngedanken, der Ihnen ganz besonders am Herzen liegt. Zu Solidarität, zu Teilhabe und Nachhaltigkeit. Was ist bei der Teilhabe der Kerngedanke?
Leggewie: Bei der Teilhabe ist es ein Gedanke der erweiterten Unionsbürgerschaft. Ich bin der Auffassung, dass wir insbesondere Flüchtlinge, die sich lange bei uns ansiedeln, die europäische Staatsangehörigkeit, die Staatsbürgerschaft geben, dass wir überhaupt den burgunderroten Pass, den ja jeder von uns in der Tasche hat – den haben wir, aber der sagt nicht sehr viel mehr über die nationale Staatsbürgerschaft hinaus, und ich möchte den gern aufwerten. Und die politische Teilhabe geht noch über die Grenzen hinaus. Ich mache Vorschläge für eine veränderte Wahl des Europäischen Parlaments mit entsprechenden Direktwahlen, mit höherer Verantwortlichkeit des Parlaments gegenüber den europäischen Bürgern. Das ist die Teilhabedimension.
Rabhansl: Was ist bei der Solidarität der Kerngedanke?

"Da kommen die Arbeitsplätze der Zukunft her"

Leggewie: Die Solidarität – da müssen wir diskutieren, wie wir ein immer stärkeres auseinanderdriftendes Europa, das immer ungleicher und ungerechter wird, wie wir das zusammenhalten. Und ich würde die erste Priorität auf die Millionen Jugendarbeitslose, speziell in Südeuropa lenken. Hier brauchen wir tatsächlich eine Investitionsinitiative, aber nicht in die üblichen Sachen, die da immer angedacht werden, sondern in wirkliche Zukunftstechnologien. Und da verbinde ich das dann mit der Nachhaltigkeitsdimension. Ich glaube, dass die Energie- und Verkehrswende im Kern einer Nachhaltigkeitswende stehen, und zwar nicht als etwas, wo, wie es in Deutschland immer den Anschein hat im gegenwärtigen Wahlkampf, wo wir wahnsinnige Opfer bringen werden müssen, sondern da kommen die unternehmerischen Energien der Zukunft her, da kommen die Arbeitsplätze der Zukunft her, und da kommen auch die technologischen und Ingenieursformate der Zukunft her. Das ist ein interessantes Projekt, das wir dauernd unter Wert verkaufen. Insofern hängen die drei Dinge, Teilhabe, Nachhaltigkeit und soziale Solidarität, die hängen unmittelbar miteinander zusammen.
Rabhansl: Viele Menschen, die gegen die EU sind, die sich starke Nationalstaaten wünschen, denen ist Europa längst zu groß und zu mächtig geworden und zu übergriffig, insbesondere das, was Sie jetzt gerade zur Teilhabe gesagt haben, klingt nach noch mehr Europa. Sie wollen den Menschen sogar einen europäischen Pass geben und damit, könnte man böse sagen, den eigenen Pass wegnehmen. Wie wollen Sie diese Menschen mit solchen Plänen zurückgewinnen?
Leggewie: Ich glaube, dass niemand seine nationale Identität als Niederländer, als Pole, als Bulgare aufgeben muss, wenn er mehr Europäer ist. Wir haben ein geschichtetes Wir-Gefühl. Wir sind einerseits Lokalpatrioten in dem Ort, in dem wir leben. Zum Zweiten leben wir in einer Region. Das dritte ist, dass wir dann Europäer sind, und da stört überhaupt nicht, dass wir dabei auch noch Deutsche und Franzosen sind. Das sind keine ausschließlichen Identitäten, sondern die können sich wechselseitig begründen, sie können sich aufstufen, sie können sich auch gegenseitig stützen.
Rabhansl: Klaus Leggewie hat das Buch geschrieben "Europa zuerst. Eine Unabhängigkeitserklärung". 320 Seiten für 22 Euro, erschienen bei Ullstein. Herr Leggewie, vielen Dank für Ihren Besuch in der "Lesart".
Leggewie: Ich habe zu Danken!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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