Plädoyer für Begegnung

Öffnen statt abschotten!

Mal mit Pegida-Anhängern zum Weihnachtssingen ins Flüchtlingsheim? Solche "paradoxen Interventionen" gilt es zu suchen, meint Ruth Kinet.
Mal mit Pegida-Anhängern zum Weihnachtssingen ins Flüchtlingsheim? Solche "paradoxen Interventionen" gilt es zu suchen, meint Ruth Kinet. © imago/Sven Ellger
Von Ruth Kinet · 17.12.2015
Ob es nun Flüchtlinge sind oder Pegida-Demonstranten: Instinktiv reagieren viele von uns mit Abschottung gegenüber dem, was uns suspekt ist. Das Gegenteil wäre richtig, meint Ruth Kinet. Sie fordert "paradoxe Interventionen": Gespräche und Begegnungen mit den "Anderen".
Ich kenne einen, der hat keine Angst. Wenn er jemanden trifft, dann schaut er ihm in die Augen und sagt: "Da bin ich. Wer bist Du?" Und er stellt diese Frage nicht, um so schnell wie möglich über sich zu sprechen. Er kann sein Gegenüber lange und eindringlich befragen, ihm ausdauernd und mit gespannter Aufmerksamkeit zuhören.
Er heißt Muawia Kabha. Er ist israelischer Araber und hat 15 Jahre lang als Rettungssanitäter nach Terroranschlägen Schwerverletzte stabilisiert, versorgt, mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht. Manchmal, wenn er schlafen geht, hat er den Geruch der 29 Leichen im Park-Hotel in Netanya in der Nase. Ein Geruch, den er im März 2002 einatmen musste, nachdem ein palästinensischer Selbstmordattentäter sich im Auftrag der Hamas mit einem zehn Kilogramm schweren Sprengstoffgürtel in die Luft gesprengt hatte. Muawia war als erster Rettungssanitäter am Ort des Anschlags.
Über all dem Wahnsinn hat Muawia seine Angst verloren. Er verweigert die Einteilung der Welt in Freunde und Feinde. Er kennt den Preis des Hasses so genau, dass er alles riskiert, um ihm das Wasser abzugraben.
In Israel hat man gelernt, die Begegnung mit dem Anderen zu suchen
Seit den Anschlägen vom 13. November in Paris keimt hier und da vorsichtiges Interesse daran auf, wie die Menschen in Israel das eigentlich aushalten, dieses Leben im Abwehrmodus. Und manchmal höre ich da die Frage heraus, was wir in Europa vielleicht von Israel lernen könnten. Mir fiele da das Eine oder Andere ein, und ich meine nicht die Mauer und auch nicht die Checkpoints.
In Israel wissen die Menschen ziemlich genau, mit wem sie in unmittelbarer Nachbarschaft zusammenleben. Sie schauen sich an, sie suchen die Begegnung. In Europa haben wir gehofft, wir könnten uns dem Hedonismus zum Nulltarif hingeben und uns dabei passgenaue Gesellschaften Gleichgesinnter zusammenbauen bei gleichzeitiger Ausschließung der Nicht-Gleichgesinnten.
Wir haben geglaubt, dass die Welt in Ordnung sei, wenn Veganer sich mit Veganern treffen und Freunde der italienischen Barockoper mit Freunden der italienischen Barockoper. Wir haben nach dem Prinzip des "like" und "unlike" gelebt. Anstrengungslos und ohne persönliches Risiko. Spätestens nach Paris beginnen wir zu erahnen, dass unsere Demokratie, unser Rechtsstaat und unsere ebenso leichtzüngig wie flachatmig beschworenen "abendländischen Werte" vielleicht doch nicht nur Accessoires sind, die wir im virtuellen Identitätsshop in einen Warenkorb legen können, sondern dass wir um sie ringen, sie weiterentwickeln müssen.
Das Risiko der Begegnung mit dem "Anderen" eingehen
Seit dem 13. November schwant uns hier in Europa, dass wir uns verändern müssen. Freiwillige Helfer Geflüchteter sollten Pegida-Demonstranten zum Weihnachtssingen in der Notunterkunft einladen, Feministinnen müssten gemeinsam mit voll verschleierten Muslimas über weibliche Selbstbestimmung diskutieren, und Vertreter der historisch-kritischen Auslegung christlicher, jüdischer und muslimischer Offenbarungstexte könnten Salafisten zu einem interreligiösen Jour-Fixe einladen.
Die Zeit ist reif für eine paradoxe Intervention. Dafür, uns zu öffnen, obwohl und gerade weil alles nach Abschottung schreit. Wir müssen raus aus unseren komfortablen, geschlossenen Zirkeln der Selbstvergewisserung, mitten hinein in das Risiko der Begegnung mit dem "Anderen".
Wenn uns das gelingen sollte, dann werden wir unterscheiden können, vor wem wir uns fürchten müssen und vor wem nicht. Und vielleicht werden dann auch wir eines Tages keine Angst mehr haben. So wie Muawia Kabha. Wir werden uns neu und tiefer miteinander verbinden und erleben, dass uns diese neue Verbundenheit tragen kann. Und ganz nebenbei werden wir dadurch auch eine neue Form der inneren Sicherheit und gesellschaftlichen Stabilität erzeugen.
Dr. Ruth Kinet arbeitet als freie Journalistin und Autorin für öffentlich-rechtliche Hörfunksender und Zeitschriften. Als freie Korrespondentin hat sie von 2008-2013 fünf Jahre lang von Tel Aviv aus über Israel und die palästinensischen Gebiete berichtet. Die Geschehnisse dort beobachtet sie weiter und reist regelmäßig in ihr früheres Berichtsgebiet.

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Die Journalistin Ruth Kinet© Foto: Sharon Back
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