Gesundheitsversorgung

Was tun gegen die Personalnot in der Physiotherapie?

06:49 Minuten
Ein Patient liegt auf einem Behandlungstisch und wird von einer Physiotherapeutin am Knie behandelt.
Kliniken und Rehazentren suchen händeringend nach Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten. © Getty Images / iStock / LSOphoto
Von Anke Petermann · 02.01.2023
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In einer alternden Gesellschaft werden Physiotherapeuten immer wichtiger. Aber schon jetzt kann der Nachwuchs den Bedarf nicht decken. Offene Stellen bleiben lange unbesetzt, auch Schmerzpatienten müssen häufig warten. Wie lässt sich das ändern?
Andrea Zinn, Physiotherapeutin in Budenheim nördlich von Mainz, stellt die Liegebank auf Hüfthöhe des Patienten. „Jetzt gehen wir in den Einbeinstand“, erklärt sie ihm. Der soll nämlich nicht liegen, sondern aktiviert werden. Und dafür gibt es 20 Minuten Zeit.
Knie heben, vor und zurückführen. Nur wenn es ihm zu wacklig wird, darf sich Martin May an der Bank abstützen. Dem Endsechziger stehen wegen fortgeschrittener Arthrose Operationen an beiden Kniegelenken bevor. Mit Physiotherapie bereitet sich der Mainzer auf die OP vor.

Vorbereitung auf die Knieoperation

„Ich bin sehr motiviert. Das Leben ist so schön, da muss man gucken, dass man schön alles wieder auf die Reihe kriegt. Ich mache auch gern was dafür“, erzählt er.
Was genau hilft, sagt ihm die angestellte Physiotherapeutin. Knieheben im Einbeinstand trainiere die Oberschenkelmuskulatur und die Stabilität. „Das Ganze machen Sie jetzt mit so wenig Unterstützung der Hände wie möglich.“
Beinkraft und Balance: wichtig, damit der Rentner nach der Knie-OP schnell wieder auf die Beine kommt. May neigt den Oberkörper zur Seite, Zinn stupst ihn an. „Und Schwupps, geht er wieder zur Seite – gerade bleiben! Schaffen Sie das? Dann muss ich sie noch ein bisschen quälen.“
Was zu besprechen ist, wird beim Üben besprochen, denn das knappe Zeitkontingent soll der Patient für die Praxis ausschöpfen können. Bis zu drei Patienten stündlich mit verschiedensten Leiden und Befindlichkeiten – die Vergütung durch die Krankenkassen gibt der Therapeutin eine dichte Taktung vor.

Enger 20-Minuten-Takt

„Ich bin tatsächlich unter Zeitdruck. Manchmal ist eine Lymphdrainage drin, die dauert etwas länger. Aber Krankengymnastik ist eine 20-Minuten-Taktung, das ist recht eng“, erklärt sie.
Manche Physiotherapeuten steigen wegen des zunehmenden Zeitdrucks aus dem Gesundheitssystem aus. Sie wechseln in große Firmen. Dort in der Prävention zu arbeiten, ist weniger stressig und lukrativer. Andere machen sich selbstständig und behandeln nur noch Privatpatienten.
Dagmar Schlaubitz, Mitinhaberin der Budenheimer Gemeinschaftspraxis, schätzt, dass maximal 40 Prozent der Ausgebildeten überhaupt in Praxen, Kliniken und Reha-Einrichtungen anfangen. Sie selbst sucht seit anderthalb Jahren zwei Kräfte, doch mangels geeigneter Bewerber bleiben die Stellen offen, mit Konsequenzen für die Patientenversorgung.

Wir haben lange Wartezeiten von sechs bis acht Wochen, das ist für die Akutpatienten ein Drama, wenn sie nicht versorgt werden nach frischen Operationen. Und ansonsten können wir aktuell keine neuen Patienten annehmen und keine Hausbesuche mehr versorgen.

Dagmar Schlaubitz, Mitinhaberin einer Gemeinschaftspraxis

Keine Hausbesuche, lange Wartezeiten

Damit ist die Budenheimer Praxis keine Ausnahme, weiß eine Patientin, die anonym bleiben möchte.
„Hausbesuche werden ja in Mainz gar nicht mehr gemacht. Also, das ist bei meinem Vater, der 97 war, ein Problem gewesen, dass jede Praxis gesagt hat: ‚Nein, machen wir nicht‘“, erzählt sie.
Und das alles, obwohl die Physio-Ausbildung durchaus gefragt ist. Die staatlichen Schulen sind seit Jahren kostenlos. Im aktuellen Haushalt hat Rheinland-Pfalz Gelder eingestellt, damit auch die privaten auf Schulgeld verzichten können.
Sozialminister Alexander Schweitzer geht davon aus, „dass wir insbesondere zum Schuljahresbeginn 2023/2024 eine deutliche Steigerung der Schulzutrittszahlen erleben. Zumindest ist das das Ziel.“

Akademisierung für bessere Nachwuchssituation

Doch wie ist zu erreichen, dass der Nachwuchs auch im Beruf bleibt? Die Akademisierung der Ausbildung sehen Bund, Länder und der Verband der Physiotherapeuten als eine Möglichkeit.
„Der Bund hat ja ein Gesetzgebungsverfahren eingeleitet, und die Länder sind eingeladen, sich in einem Gesetzgebungsverfahren einzubringen. Wir tun das als Rheinland-Pfalz“, sagt Sozialminister Schweitzer.
Der SPD-Politiker plädiert selbst für eine Teil-Akademisierung. Das heißt, die Hochschulen für die Physiotherapie öffnen, ohne die Berufsfachschulen zu schließen, um zum einen diejenigen zu halten, die mit Realschulabschluss gute Therapeuten werden können, und gleichzeitig denen mit Physiotherapie-Studium lange geforderte Zuständigkeiten zu geben.

Aufwertung der Physiotherapie insgesamt

„Dazu gehört für mich zwingend, dass es dann einen Direktzutritt zu den Patienten und Patientinnen geben muss, ohne vorherige ärztliche Verschreibung. Das würde den Beruf enorm aufwerten“, den ärztlichen Alleinanspruch auf Diagnose aber aushebeln. Das wird konfliktträchtig, sieht der Mainzer Ressortchef voraus.
Und es ist eher die Langfristperspektive, vermutet Dagmar Schlaubitz, Vorstandsmitglied bei Physio Deutschland, Landesverband Hessen–Rheinland-Pfalz–Saarland. Schlaubitz fordert, dass Berufskollegen kurzfristig mehr Eigenverantwortung bekommen, um die ärztlich verordnete Behandlung einzuteilen. Kurz: Zeitkontingente statt Zeitkorsett.

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„Wenn wir von einem Standardrezept ausgehen von sechs Behandlungen à 20 Minuten, hätten wir rechnerisch 120 Minuten zur Verfügung und könnten sagen, 40 Minuten für den Befund und die Erstbehandlung“, samt Übungen als Hausaufgaben. Dann würde ein neuer Termin nach zwei Wochen reichen, anstatt in der dichten Taktung, wie ärztlich verordnet. „Und so könnten wir flexibler reagieren, wenn wir das eigenverantwortliche Handeln hätten“, erklärt sie.
Patienten nicht mehr in Turbozyklen durchschleusen zu müssen, würde Physiotherapeuten kurzfristig zufriedener machen. Auf Augenhöhe mit Ärzten am Patienten zu arbeiten, könnte auf lange Sicht dazu beitragen und einer wachsenden Anzahl von alternden Patienten eine niedrigschwellige Behandlung von Muskel-, Gelenks- und Nervenschmerzen sichern.
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