Phrasen für das neue Jahr

Von Jubel bis Krodilstränen

03:00 Minuten
Ein Mann mit Kippa verfolgt die Rede von Daniel Günther (CDU), Ministerpräsident Schleswig-Holstein, bei einem Festakt in der jüdischen Gemeinde Schleswig-Holstein zu "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland.
Festakt in der jüdischen Gemeinde Schleswig-Holstein zu "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" im November. © picture alliance / dpa / Christian Charisius
Von Gerald Beyrodt · 31.12.2021
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Unweigerlich fallen merkwürdige Worthülsen, sobald über Jüdisches gesprochen wird. Vielleicht haben viele Angst, etwas Falsches zu sagen, vielleicht auch manche das Richtige. Eine Sammlung der schönsten Phrasen und deren Entwicklung im neuen Jahr als Glosse.
Phrase ist nicht gleich Phrase, jedenfalls nicht, was Judentum und Juden angeht. Es gibt nämlich die Jubelphrase, übrigens nah verwandt mit der Alles-wieder gut-Phrase. Sie ist anzuwenden bei Synagogen-Neueröffnungen, jüdischen Jubiläen, freudigen Festjahren und ähnlichen Jubelereignissen.
Davon unterscheidet sich die Trauer- und Betroffenheitsphrase, nah verwandt mit der Krokodilstränenphrase. Sie ist anzuwenden bei Anschlägen auf Synagogen oder Friedhöfe, gerne auch beim KZ-Gedenken.
Aber fangen wir an mit der Jubelphrase. Ganz wichtig ist die Behauptung, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland nicht mehr auf gepackten Koffern sitzen.

Unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger

Das kann man immer mal behaupten, auch wenn in jüdischen Gemeinden wieder häufiger die Frage zu hören ist, ob man hierbleiben sollte, und die Anschlussfrage, ob man in Israel einen Job bekäme. Vielleicht fühlen sich Jüdinnen und Juden doch nicht so wohl, wie es die Phrasendrescher gerne hätten. Ist aber egal: Die Phrase ist ja nicht für unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Womit schon mal klargestellt ist, dass „wir“ bestimmt keine Juden sind und dass Juden tatsächlich auch noch Bürger sind, wenn auch nur „Mit“-Bürger, also eine Art Blinddarm Deutschlands.
Jedenfalls ist die Behauptung mit den nicht mehr gepackten Koffern nicht für Jüdinnen und Juden, sondern für die vermutete Mehrheitsgesellschaft, der man signalisieren will: alles wieder gut.

Das jüdische Leben treibt Blüten

Ebenso wie mit der Phrase vom wieder erblühenden jüdischen Leben, die uns wissen lässt: Wenigstens das jüdische Leben treibt Blüten, in einer Zeit, wo sich sonst alle Welt Weihnachtsbäume ins Wohnzimmer stellt.
Derart positiv gestärkt können wir uns jetzt den Trauerphrasen zuwenden. Der Rechtsstaat muss die Schuldigen mit aller Härte verfolgen, sagt man, wenn sich beispielsweise ein Anschlag ereignet hat oder auch, der Rechtsstaat dürfe dies und jenes nicht zulassen – meistens das, was er gerade zugelassen hat, wenn er mal wieder die Bewachung vergessen hat. Natürlich ist dieser Anschlag, also der, der sich gerade ereignet hat, ein Anschlag auf uns alle.

Fassungslos ins neue Jahr

Es stimmt zwar: Anschläge auf Synagogen gefährden die Demokratie und den Rechtsstaat. Aber in Halle gab es Menschen, die hinter der Synagogentür saßen oder im Döner-Imbiss. Und es gab andere, die haben dort nicht aufgehalten. Am Ende sind aber solche Überlegungen egal, denn man ist ja sowieso fassungslos.
Wobei die Fassungslosigkeit häufig sehr glatt und eloquent und gefasst klingt. Nach Anschlägen werden auch Statements mitten in der Woche plötzlich zu Sonntagsreden. Wenn tatsächlich mal jemand die Fassung verliert, das wäre doch was Neues im neuen Jahr.

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