Sachbuch "Jung und jüdisch in der DDR"

Das Gefühl, alleine zu sein

07:34 Minuten
Das Portal der Neuen Synagoge in Erfurt, die 1952 geweiht wurde.
Das Portal der Neuen Synagoge in Erfurt, der einzigen Synagoge, die in der DDR gebaut wurde. Sie wurde 1952 geweiht. © picture alliance / dpa / Martin Schutt
Von Carsten Dippel · 17.12.2021
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In der DDR herrschte kein gutes Klima für ein aufblühendes jüdisches Leben. Auch jüdische Kinder und Jugendliche erfuhren bereits Ausgrenzung und sozialen Druck. Sie erlebten ein permanentes Tauziehen zwischen Außenwelt und Familienleben.
Wenn über Juden in der DDR gesprochen wird, stößt man schnell auf die Namen von Künstlern, Intellektuellen, SED-Funktionären. Jurek Becker, Anna Seghers, Stephan Hermlin, Ernst Bloch, Hermann Axen oder Klaus Gysi. Sie prägen das Bild, obwohl die wenigsten etwas mit jüdischer Alltagskultur oder dem Gemeindeleben zu tun hatten.
Doch wie war es, als jüdisches Kind in der DDR groß zu werden? Wie sah das Gemeindeleben aus, was hieß es, ins jüdische Kinderferienlager an die Ostsee zu fahren? Darüber ist erstaunlich wenig bekannt, findet Sandra Anusiewicz-Baer.

"Überraschend für mich waren diese vielen Brüche, die es im Leben der Leute gegeben hat. Dieser sehr dünne Faden zum Judentum und zur jüdischen Familiengeschichte, der wirklich ganz aufgeraut war."

Anusiewicz-Baer wuchs in Dresden auf. Ihr Vater war dort seit den 60er-Jahren Mitglied der jüdischen Gemeinde. Ihre Co-Autorin Lara Dämmig wuchs als Enkelkind von Remigranten in Ostberlin auf. Beiden war es ein Anliegen, diesen nicht erzählten Geschichten nachzugehen. So haben sie über Jahre hinweg Zeitzeugen-Interviews mit jüdischen Menschen geführt, die wie sie selbst aus dem Alltag in der DDR berichten konnten.

Judentum war für alle exotisch

Es ging um ganz praktische Fragen: Wie kann ich meinem Kind im sozialistischen Staat jüdische Bildung mit auf den Weg geben, jüdische Werte vermitteln? Wie komme ich an koschere Lebensmittel oder wie kann ich Kontakt halten zu den in der Welt verstreuten Verwandten?
Man erfährt in den hier erzählten Details, wie schwierig sich all diese Dinge gestalteten. Es gab kaum Materialien oder Bücher. Die einzige koschere Fleischerei lag in Berlin. Viele Familien waren gemischt. Fast niemand habe eine jüdische Ehe schließen können. Die heute heiß diskutierte Frage, ob Vater oder Mutter jüdisch ist, stellte sich in der DDR gar nicht, so Anusiewicz-Baer.
"Man hat - über welchen Familienteil auch immer - dazugehört und hat sich mit diesem jüdischen Familienteil identifiziert. Die nichtjüdische Familie ist häufig auch draußen geblieben."

Eine tiefsitzende Angst

Lara Dämmig ist in Ostberlin aufgewachsen. Ihre Großeltern haben dafür gesorgt, dass sie ins Kinderferienlager fuhr sowie in die jüdische Kinder- und später Jugendgruppe ging. Zu Hause wurden jedoch keine jüdischen Feste gefeiert. Sie hatten Verwandte in der ganzen Welt, ab und zu gab es Besuch.
Dämmig setzte sich wie andere auch mit ihrer jüdischen Identität irgendwie auseinander. Man versuchte, an Bücher zu jüdischen Themen zu kommen. Manch einer trug eine aus dem Westen besorgte Kette mit Davidstern - doch keineswegs in der Schule. "Da gibt es eine tiefsitzende Angst, die wahrscheinlich eine Gefühlserbschaft der Eltern ist."
Verstärkt habe dieses Gefühl, dass sich die DDR als homogener Staat mit einer antifaschistischen Doktrin begriffen habe, in der es schwierig gewesen sei, anders zu sein, erläutert Dämmig. Gemäß dieser Doktrin saßen die Nazis alle im Westen. "Im Osten hat sich eigentlich niemand wirklich ernsthaft mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt."
Erzählt hat Lara Dämmig über ihr Jüdischsein in der Schule nichts. Aber die Mitschüler wussten wohl, dass sie Kind von VdN (Verfolgten des Naziregimes) ist.

Jede Erfahrung war individuell

"Da war wirklich auch für die Kinder der Verfolgten so eine Leerstelle. Gerade wenn sie irgendwo aufgewachsen sind, wo es nur sehr kleine oder gar keine Gemeinden gab. Sie sind nicht natürlich jüdisch aufgewachsen, sondern das Jüdische war das Besondere im eigenen Familienleben oder wurde vielleicht auch in vielen Familien nicht thematisiert. Vielleicht auch, weil die nichtjüdischen Ehepartner sich auch nicht damit auseinandergesetzt haben."
Die mehr als 20 auf der Basis des Interviewmaterials erzählten Geschichten über das Aufwachsen als Jüdin oder als Jude in der DDR machen aber auch deutlich: Jede Erfahrung war individuell. Das zeigt sich etwa am Erleben von Antisemitismus. Manche Protagonisten haben kaum negative Erfahrungen gemacht, andere berichten von Anfeindungen im Alltag. Ein roter Faden zieht sich dennoch durch die Geschichten: Das Gefühl, alleine zu sein. „Von allem zu wenig“, eine typische Erfahrung für Millionen DDR-Bürger, habe für die versprengten jüdischen Menschen noch in besonderem Maße gegolten.
Sandra Anusiewicz-Baer war auf ihrer Polytechnischen Oberschule in Dresden die einzige jüdische Schülerin.
"Eine Sehnsucht nach mehr. Also dass man es schon sehr stark empfunden hat, diese solitäre Stellung, dass es eben nur ganz, ganz wenige andere junge Juden und Jüdinnen gab, eben keine jüdischen Kinder im gleichen Alter. Dass auch die Familien meistens sehr klein waren. Und dass es natürlich jetzt überbordendes Feiertagsleben gab oder dass es wenig Literatur gab,  wenig Wissen gab, wenig angeleitete Pädagogik. Also, es gab zu wenig Juden, es gab zu wenig Wissen, es gab zu wenig Reisefreiheit, es gab nicht genug Verwandte. Also das ist etwas, was, glaube ich, alle sehr stark empfunden haben."

Identität stiftete das jüdische Ferienlager

Das verbindende Element der hier versammelten Geschichten ist das jüdische Kinderferienlager in Glowe auf Rügen, was die meisten der Protagonisten besuchten. Ein Ferienaufenthalt für zehn, manchmal auch 15 bis 20 Kinder, mit allem, was die Ostsee an Ferienspaß zu bieten hat; es wird als sehr familiär beschrieben. Einmal die Woche wurde gemeinsam Schabbat gefeiert. Dazu reiste eigens der Präsident der jüdischen Gemeinden an.
"Das Ferienlager war eben so ein Ort, so ein Raum, wo für drei Wochen im Sommer die Kinder zusammengekommen sind und da eben gemeinsam ihre Ferien verbracht haben und es diese Klammer gab: Wir sind jüdisch, wir sind hier an einem jüdischen Ort, ideell gesehen auch, in einem jüdischen Ferienlager."
Nicht zu unterschätzen sei daher die Bedeutung jüdischer Institutionen, so ein Resümee der Autorinnen, die mit ihrem bei Hentrich & Hentrich erschienenen Buch „Jung und jüdisch“ eine wichtige Lücke in der Geschichte des Judentums im östlichen Nachkriegsdeutschland schließen.

Chanukka in der Gemeinde, Weihnachten zu Hause

"Wir haben Weihnachten gefeiert zu Hause, ganz klar. Und Chanukka wurde in der Gemeinde gefeiert, nicht zu Hause. Also diese ganzen jüdischen Aspekte, die fanden in der Gemeinde statt. Und deshalb: Die Gemeinde als Institution, die das zur Verfügung gestellt hat, die das angeboten hat, das war ganz wichtig, glaube ich."
Die Beschäftigung mit ihrer jüdischen Identität setzte bei Anusiewicz-Baer gegen Ende der DDR, im Alter von 12 bis 13 Jahren ein. Mit dem Mauerfall stand dann das Tor in eine bis dahin verschlossene Welt, eben auch jüdische Welt, offen.

Sandra Anisiewicz-Baer, Lara Dämmig: "Jung und jüdisch in der DDR"
Hentrich & Hentrich Verlag, Leipzig 2021
236 Seiten, 24,90 Euro

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