Philosophischer Wochenkommentar

"Wir brauchen kein biopolitisches Diätprogramm!"

Kunde am Kühlregal im Supermarkt
Kunde am Kühlregal im Supermarkt © imago/biky
Von Harald Lemke · 19.11.2017
Fördert das Wissen um die Nährwerte tatsächlich eine bewusste Ernährung? Der Philosoph und Ernährungsethiker Harald Lemke ist skeptisch. Kalorien zu zählen sei eher kontraproduktiv. Nötig sei eine bessere Esskultur.
Die Idee ist nicht neu. Alle lesen die Kalorien-Angaben und entscheiden sich dann bewusst gegen ungesundes Essen.
Nur entspricht diese Idee nicht der Realität. Zunächst einmal heißt kalorienreich nicht automatisch ungesund. Ein deftiger Grünkohleintopf hat viele Kalorien, aber auch viele Nährstoffe und kann außerdem ein Fest des Genießens sein.
Ohnehin müsste der Staat seinen Bürgern eigentlich gar kein biopolitisches Diätprogramm aufzwingen. Längst ermöglichen handelsübliche Smartphone-Apps ein problemloses Kalorien-Zählen. Alle, die es wirklich darauf anlegen, können wissen, wo sich in ihrem Speiseplan die unsichtbaren Dickmacher verstecken.

Vorgeschriebene Kalorienangabe ist verantwortungslos

Ein einseitiger Fokus aufs Kalorien-Zählen und Diät-Halten wird uns auch in Zukunft keiner Verbesserung der vorherrschenden Ernährungsverhältnisse näher bringen. Eine bloße Diätmoral übersieht die vielseitigen gesellschaftlichen Auswirkungen, die mit unseren Essens-Entscheidungen verbunden sind. Denn in einer globalisierten Welt stellt jeder Essakt nicht nur einen gesundheitlichen "Selbst"-Bezug her. In seiner milliardenfachen Multiplikation schafft er zugleich komplexe "Welt"-Verhältnisse u.a. zur Landwirtschaft, zur Klimaerwärmung, zu Fluchtursachen und Lebensperspektiven von Bauern weltweit ebenso wie zu den Zuständen in der industriellen Massentierhaltung oder zum Einfluss großer Lebensmittelkonzerne und Fast-Food-Restaurants.
Gemessen an den vielen Detailmaßnahmen, die eine programmatische Politik der "Ernährungswende" umfassen müsste, ist die gesetzlich vorgeschriebene Kalorienangabe vor allem eines: verantwortungslos.
Oder würden Sie jemanden für verantwortungsbewusst halten, der – bildlich gesprochen – bei einem dramatischen Autounfall in sicherem Abstand lediglicheinWarn-Schild aufstellt – in der Überzeugung, er habe damit alle erforderlichen Rettungsmaßnahmen ergriffen?
Was muss noch alles passieren, damit die Politik erkennt, dass eine nachhaltige Esskultur weniger vom Kalorienzählen und von Gesundheitskampagnen abhängt als von der "gastrosophischen" Erkenntnis, dass es dabei – neben dem leiblichen Wohlergehen – um entscheidende Fragen des Überlebens der Menschheit auf diesem Planeten geht.

Das globale Internet des Essens

Nur die Kalorien-Zahlen zu kennen, reicht nicht aus, um die komplexe Welt unserer Ernährung, um das globale Internet des Essens zu verstehen.
Eine zeitgemäße Ernährungsbildung, die die erforderlichen Ess-Kenntnisse vermittelt, wäre eine der zahlreichen Maßnahmen, die eine verantwortungsbewusste Politik durchzusetzen hätte.
Eine solche Bildung würde den Menschen auch befähigen, eine Speise tatsächlich zu schmecken und sich selbst dabei als genussfähiges Wesen zu erleben. Wäre eine gute Geschmacksschulung insofern nicht ein wesentlich besserer Schutz gegen Fettleibigkeit?

Wir brauchen eine bessere Esskultur

Es mag ungewohnt klingen: Aber was die Menschheit vor der drohenden posthumanen Zukunft bewahren könnte, wäre vor allem eine bessere Esskultur.
Der konviviale Mensch von morgen, so lautet meine Utopie in Kurzfassung, ließe die digitalen Maschinen für sich arbeiten – und meinetwegen auch die Kalorien zählen –, während sein eigenes Leben unter anderem aus einer Tätigkeit bestünde, die Immanuel Kant für "wahre Humanität" hielt: Nämlich täglich "gute Mahlzeiten in guter Gesellschaft" zu kultivieren.
Mehr zum Thema