Philosophischer Wochenkommentar

Ein Lob der Weltflucht

Ein Mann steht auf einem Steg am Gardasee in Italien, in Lazise.
Ein Mann steht auf einem Steg am Gardasee in Italien, in Lazise. © imago/Westend 61
Von Arnd Pollmann · 17.12.2017
Für Realitätsverweigerer hat Arnd Pollmann Verständnis. Sie zeichneten sich aus durch ihren Willen zur Abwesenheit. Auch wenn sie oft passiv und weltabgewandt erschienen, ihre utopischen Tagträume hätten das Potenzial ganze Welten zum Einsturz zu bringen.
Ausgerechnet an dem Tag, an dem drei Ex-Mitarbeiterinnen massive Vorwürfe wegen sexueller Belästigung erneuerten, kündigte Donald Trump als erster US-Präsident seit 1972 einen bemannten Raketenflug zum Mond an. Getreu dem imperialen Motto: Wer innenpolitisch in der Klemme sitzt, muss außenpolitisch expandieren. Diese geradezu kindische Fluchtbewegung mutet gewohnt größenwahnsinnig, ökonomisch ruinös und wissenschaftlich wahrscheinlich sinnlos an. Zudem beweist sie einmal mehr, dass in dem präsidialen Riesenbaby das Gemüt eines narzisstisch gekränkten Knaben sitzt, der sich früher oft selbst auf den Mond gewünscht haben mag.

Der Wille zur Abwesenheit

Bei genauerem Hinsehen jedoch offenbart diese Fluchtbewegung des "Rocket Man" aus Washington eine geradezu universelle Wahrheit über die Misere des erwachsenen Menschseins. Die sogenannte wirkliche Welt entspricht nicht gerade dem, was man sich früher einmal von ihr erträumt hat. Und wenn man sich in dieser Realität nicht heimisch fühlt, werden naive Fluchtreflexe spürbar. Dann erwacht der eskapistische Traum von einer neuen Schwerelosigkeit; davon, dass am Ende vielleicht doch "eine andere Welt möglich ist". Leider aber ist die Erde eine Kugel, man kommt von ihr nur schwer weg, und die wenigsten werden die Astronauten-Prüfung bestehen. Deshalb nimmt dieser Eskapismus meist die Gestalt einer inneren Emigration an: Drogen und Partys, Musik, TV und Netflix, Smartphones und Videospiele, Arbeit und Extremsport, Kloster-Aufenthalte und Yoga-Retreats, religiöse Heilsbotschaften und politische Ideologien. All das sind Strategien einer utopischen Befreiung vom Realitätsprinzip. Hier zeigt sich eine zutiefst menschliche Sehnsucht nach Absenz; der Wille zur Abwesenheit.

Die Herrschaft des Realitätsprinzips

Die Welt ruft Eskapisten gern zur Ordnung: "Reißt euch zusammen!". Wenn man ein Apologet des Realitätsprinzips ist, mag man in der Fluchtbereitschaft dieser weltfremden Realitätsverweigerer nichts als eine charakterschwache Vermeidungshaltung sehen. Doch dieser Eindruck ist doppelt ungerecht. Denn diese Kritik lebt, erstens, von einer wie selbstverständlich vorausgesetzten Prämisse, die so selbstverständlich gar nicht ist: von der Überzeugung nämlich, dass es tatsächlich so viel besser ist, in der Realität, im Hier und Jetzt, zu leben. Aber wer sagt das eigentlich? Wer hat ein Interesse daran, uns ständig an die Herrschaft des Realitätsprinzips zu erinnern? Und zweitens: Eskapisten mögen zwar oft passiv, weltfremd, weltabgewandt wirken. Oft aber hängen sie utopischen Tagträumen nach, die das Potenzial in sich tragen, ganze Welten zum Einsturz zu bringen.

Unheimliche Existenz

Wirklich passiv sind eigentlich nur jene Menschen, die prokrastinieren, die unentwegt abwarten und die wirkliche Welt still erdulden. Nur mit diesen Menschen ist nichts anzufangen – abgesehen von der Aufrechterhaltung des Status Quo. Eskapisten hingegen weisen in ihrer Weltfremdheit meist einen utopischen Überschuss auf. Das buchstäblich Unheimliche ihrer Existenz drängt zum Aufbruch. Für Eskapisten gilt, wie Peter Sloterdijk in einer grandiosen Analyse der "Weltfremdheit" gezeigt hat: "Die Welt ist alles, was eigentlich nicht der Fall sein dürfte". Angesichts der Unwirtlichkeit dieser Welt werden sie zu "Geschöpfen der Flucht nach vorn". Sie suchen offene Hintertüren, erklären der Alternativlosigkeit den Krieg, werden zu Vordenkern von Revolten und Revolutionen. Ob in der Kunst, in den Wissenschaften oder auch in der Politik – siehe Donald Trump –: Manchmal können weltfremde Menschen für eine ungeheure, angsteinflößende Dynamik sorgen, gerade weil sie sich um das Realitätsprinzip, um das Machbare, nur wenig scheren.
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