Philosophischer Wochenkommentar

Digitale Zeiten - Raubbau an der Aufmerksamkeit

Zwei Grundschülerinnen wischen die Tafel blank.
Wischen ist nicht gleich wischen, und Tafel ist nicht gleich Tablet, meint Harald Stübing: © picture alliance / dpa
Von Harald Stübing · 10.01.2016
Wenn in der Schule die Tafel gewischt wird, entsteht Platz für neue Gedanken. Ganz anders verhält es sich, wenn wir übers Smartphone oder Tablet wischen. Dann treibt uns unsere "Vernarrtheit in die Information". Diese mache uns aber stumpf für das Unscheinbare und Unerhörte, warnt Harald Stübing.
Für die Propagandisten des Digitalen muss es nahezu ein Affront sein, dass in den Schulen immer noch Tafeln hängen, die mit Wörtern, Sätzen, Zahlen, Formeln, Skizzen übersät werden. Ist die Tafel voll, wird mit dem Schwamm all das Gekritzel abgewischt. Die Hand führt dabei eine ähnliche Bewegung aus wie beim Wischen über die Smartphones und Tablets.
Allerdings ist ein Unterschied nicht zu übersehen: An der Tafel entsteht mit jedem Abwischen ein leerer Grund, der erneut mit Zeichen gefüllt werden kann. Beim Wegwischen auf dem Computerschirm ist diese Zwischenzeit der Leere unmöglich geworden; immer schon ist etwas da und bleibt als Spur im elektronischen Archiv. Zur Leere kommt es nur im Störfall, während eines technischen Defekts, wenn der Bildschirm dunkel bleibt. Auf den elektronischen Apparaten ist das Wischen eine Suche nach Einträgen der verschiedensten Art, nach Photos und Filmen. Heutzutage findet man, in dem man wegwischt.
Wischen als Symptom der Gegenwart
Technik konditioniert das Verhalten und formt die Dinge. Vielleicht ist die Geste des Wischens nicht nur eine physische Bewegung, sondern zugleich ein Symptom der Gegenwart, Ausdruck einer neuen Verteilung von Aufmerksamkeit, Zerstreuung und Vergessen? Bei den zahlreichen medialen Rückschauen auf das vergangene Jahr werden sich nicht wenige von uns gewundert haben, wie vieles man bereits vergessen hatte oder nur noch vage erinnerte. Die Aufmerksamkeit, mit der man eine Neuigkeit noch vor einigen Wochen verfolgte, ist längst verbraucht und auf andere Ereignisse gelenkt worden.
In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts dachte Walter Benjamin darüber nach, wie sich das Verhältnis von Erzählung und Information verändert. Schon damals schrieb er hellsichtig: "Beinahe nichts mehr, was geschieht, kommt der Erzählung, beinahe alles der Information zugute." Für die Information gelte immer, dass sie sich gänzlich an den Augenblick ausliefern müsse. Sie zerreißt den Zusammenhang, transformiert ein Geschehen in ein Ereignis, das als besonders, als außergewöhnlich, als eine Neuheit ausgerufen wird. Die Information will überraschen und alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ganz anders verfährt die Erzählung, denn sie "verausgabe" sich nicht, wie Benjamin meint, sondern sie "bewahrt ihre Kraft versammelt" und darum ist sie für weitere Wandlungen, Anknüpfungen und Wiederholungen offen.
Erst die lassen verständlich werden, warum eine Technik sich so schnell und widerstandslos in den Alltag einfügt, bei der man die Finger über Bildschirme gleiten läßt - auf der rasanten Jagd nach Neuigkeiten. Es sind nicht allein die flüchtigen Ereignisse, sondern mehr noch die Routinen, die Aufmerksamkeit verdienen.
Die Aufgeregtheiten der Tage nehmen uns häufig gefangen, aber es gilt, mit Neugier auf das Unscheinbare zu achten, was jenseits der Ereignisse dauert. Denn in ihm steckt manchmal eine Anregung für eine unerhörte Erzählung, eine verwegene Konstellation, einen unbekannten Zusammenhang. Und es soll auch weiterhin gelegentlich vorkommen, dass eine Kritzelei auf einer leeren Tafel eher zu einem Gedanken führt als alle hektische Wischerei auf den Oberflächen der Apparate.

Eine Person tippt mit dem Finger auf ein Tablet.
Eine Person tippt mit dem Finger auf ein Tablet: Harald Stübing spricht von Vernarrtheit in die Information und die Faszination an ihrer Verfügbarkeit".© imago / Jochen Tack
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