Philosophischer Wochenkommentar

Alle sind mitschuldig an der VW-Lüge

An einem alten Volkswagen (Golf) ist am 23.09.2015 auf einem Schrottplatz in Wiesbaden (Hessen) das Logo des Autokonzerns verwittert.
Durch seinen Betrug beschädigt: Volkswagen. © picture alliance / dpa / Fredrik von Erichsen
Von Andrea Roedig |
Die Lüge kann man sehen als unzulässigen Eingriff in die Freiheit anderer, sie beraubt uns der Selbstbestimmung, der Freiheit der Entscheidung. Trotzdem sind sich die Philosophen nicht einig, wie sie die Lüge bewerten - und gerade der VW-Skandal zeigt, wie gern wir uns einlullen lassen, kommentiert Andrea Roedig.
"Du sollst nicht lügen", das steht schon in der Bibel, und das mit gutem Grund. Sich auf Aussagen verlassen zu können, auf die Wahrhaftigkeit des Gegenüber zu vertrauen, gehört zu den Regeln sozialen Zusammenlebens schlechthin. Die bewusste Täuschung dagegen hat das Potenzial, Gemeinschaften in ihren Grundfesten zu erschüttern.
In der Philosophietradition gibt es grob betrachtet zwei Positionen zum Lügen, die mit den Namen Kant und Nietzsche verbunden sind. Der Aufklärer Kant ist, wie man weiß, der große Verfechter einer unbedingten Pflicht, die Wahrheit zu sagen. Selbst in Notwehr, so findet er, sei die Lüge nicht gerechtfertigt, weil sie das Prinzip der Wahrheit an sich schädige.
Nietzsche dagegen ist wesentlich skeptischer, er hält die Idee einer Wahrheit im Grunde für Augenwischerei, eine Täuschung der Sprache. Wahrheit sei, so heißt es in einem berühmten Zitat, nichts weiter als "eine Weise, nach bestimmter Convention zu lügen".
Ein Sprachspiel mit vielen Facetten
Was ist nun schlecht am Lügen? Dass es Tatsachen verdreht. Es mag gute Gründe geben zu lügen, und manche sind wohl auch moralisch integer. Grundsätzlich aber ist die Lüge eine bewusste Falschaussage, und als solche untergräbt sie das Vertrauen, das wir in die Welt oder in die Wahrhaftigkeit anderer haben wollen. Die Täuschung widerspricht unserem "Interesse an der Wahrheit", so begründet es die in Düsseldorf lehrende Philosophieprofessorin Simone Dietz. In ihrem Buch "Die Kunst des Lügens" geht sie aber noch einen Schritt weiter und definiert die Lüge als "unzulässigen Angriff auf die Freiheit anderer."
Zwar sei Lügen selbst ein Sprachspiel mit vielen Facetten, sagt Dietz, und daher nicht grundsätzlich zu verdammen. Doch moralisch verwerflich sei die Lüge, wo sie das Gegenüber instrumentalisiert und ihm das Vermögen nimmt, bewusst zu entscheiden. Nach Dietz wäre das der eigentliche Skandal der Lüge: Sie beraubt uns der Selbstbestimmung, der Freiheit der Entscheidung, und sei es – wie im Fall von VW – der Entscheidung, bewusst eine Dreckschleuder zu kaufen oder eben nicht.
Aber wollen wir die Wahrheit überhaupt so genau wissen? Zurück zum großen Psychologen Nietzsche, der schon vor den Zeiten omnipräsenter Werbeverführung schrieb: "Die Menschen fliehen das Betrogenwerden nicht so sehr als das Beschädigtwerden durch Betrug; sie hassen im Grunde nicht die Täuschung, sondern die schlimmen Folgen gewisser Gattungen von Täuschungen."
Die Empörung ist immer auch heuchlerisch
Wenn es nutzt und keine Nachteile hat, lassen wir uns ja gerne einlullen vom Versprechen eines dieselgetriebenen Umweltengels und vermutlich schmerzt der Wertverlust der VW-Aktie mehr als die im Auto eingebaute Lügensoftware. Die Empörung über einen Betrug, die Desillusionierung, die nach einer Enthüllung eintritt, wirkt deshalb auch immer ein Stück weit heuchlerisch, denn gehen wir nicht insgeheim alle davon aus, dass irgendwo gemogelt wird?
Schließlich verlangen wir das Unmögliche: Wir wollen preisgünstige Autos und die besten Katalysatoren; wir wollen VW zugleich als konkurrenzfähige Weltmarktspitze und väterlich-nationalen Tugendkonzern. Alles zusammen geht ohne Täuschung eigentlich nicht, und in dieser Hinsicht gleichen die VW-Manipulationen dem Doping im Leistungssport: Auch hier ist der Betrug hausgemacht und Teil eines Systems. Im Skandal der Lüge steckt oft das schlechte Gewissen, sie mit verursacht zu haben.
Da fragt sich nur, ob die Lüge eigentlich eine Lüge ist, wenn man sie nicht entdeckt? Ich glaube schon, und was die Einstellung zum Lügen angeht, sollte man sich philosophisch wohl an beide, an Kant und Nietzsche halten. Kants idealistische Option für den prinzipiellen Wert der Wahrheit ist ein wichtiger Impuls, den wir nicht aufgeben dürfen; Nietzsche auf der anderen Seite hilft, in Sachen Lüge dennoch realistisch zu bleiben.
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