Philosophisch und persönlich

Rezensiert von Gregor Ziolkowski |
Der neue Roman "Der blinde Reiter" philosophiert Autor Juan Goytisolo über die großen Fragen des Lebens und verwendet als Stoff ausschließlich die eigene Biographie. Anstelle einer eigentlichen Romanhandlung fügt Goytisolo nur fragmentarische Aufblendungen in die Erinnerungen oder Assoziationen des Ich-Erzählers ein.
Es gibt diese Texte, die Schauder erzeugen: wegen ihrer konsequenten Düsternis, wegen der Verweigerung jeglichen Trostes, wegen ihrer Bereitschaft, sich den letzten Fragen auszusetzen. In Juan Goytisolos Roman nimmt der Ich-Erzähler die Zeitlichkeit, die Zeitgebundenheit - und damit die Endlichkeit - der eigenen Existenz dringlich wahr. Es ist zunächst der Tod seiner Frau, für die er zwar der "immer abwesende Ehemann" war, mit der ihn aber dennoch die Bande eines innigen Verständnisses einten, die seine Reflexionen über die Zeit als einen "blinden Reiter" auslösen, der ohne Rücksicht das Terrain des Lebens überquert.

Die Lücke, die dieser Tod reißt, verweist auf ein früheres Unglück - den Tod der Mutter, die im Spanischen Bürgerkrieg unschuldig-ahnungsloses Opfer eines Bombardements wurde. In memoirenhaften Aufblendungen in seine vergangene Kindheit rekonstruiert dieses erzählende Ich schemenhaft seine Empfindungen jenes plötzlichen Todes und die verheerenden Folgen für den bis dahin intakten familiären Kosmos.

Ein drittes Element - die Reportagereise des Ich-Erzählers nach Tschetschenien, in den Krieg - drängt in diese Reflexionen, es ist in gewisser Weise der Schnittpunkt seines Lebens und der Literatur. Denn so, wie sich dem Erzähler die Dimensionen des Menschlichen einst anhand von Lew Tolstois "Krieg und Frieden" erschlossen haben, so nimmt er den "Hadschi Murat" als einen Wegbegleiter für die Reise in den Kaukasus, in "Russlands offene Wunde", mit.

Aber Tolstoi mit seiner letztlich rätselhaften und aufbegehrenden Flucht in den Kaukasus, die in Wahrheit sein Todeskampf war, führt erneut hinein in ein Bedenken jener Endlichkeit des Individuums. In gewisser Weise kulminieren an dieser Stelle die Todesarten in einem entscheidenden Dilemma: hier der Tod als brutales, dabei banales Massaker, wie er seine Spur im Tschetschenien-Krieg hinterlässt, da - bei Tolstoi - der gleichsam Sinn suchende Tod, der sich ereignet, während er so etwas wie dem letzten Ziel seiner Existenz nahezukommen versucht.

Durchaus angeregt von Tolstois "Gottsuchertum", spielt Juan Goytisolos Text die Möglichkeit dieser höchsten und letzten Instanz durch. Das Göttliche - gekleidet in die Rolle des christlichen Gottes - macht sich in einem fiktiven Dialog mit dem Ich-Erzähler hörbar. Es ist die Stimme eines universalen Glücksritters, der, erdacht und zur Wirklichkeit geworden durch die Wünsche und Sehnsüchte der Menschen, wie ein cleverer Geschäftsmann die Gunst seiner Situation zu schätzen weiß.

Dieser Gott ist ein Zyniker, der jede Verantwortung für irgendein Geschehnis auf der Welt kategorisch ablehnt. Schließlich habe nicht er sich selbst erschaffen, sondern der Mensch habe ihn offenbar nötig gehabt. Dass er nun, einmal in der Welt, diese lenke oder doch beeinflusse nach seinem Gutdünken, sei daher ihm als Letztem vorzuwerfen. Allerdings lässt sich dieser Gott nicht wirklich auf Rechtfertigungen seines Tuns oder Nichttuns ein, denn recht eigentlich stellt er klar, dass er nicht sonderlich interessiert sei an seiner Rolle als Welten- und Schicksalslenker.

Vielmehr suche er Unterhaltung wie ein Zuschauer, der von anderen zu einer Vorführung geladen worden sei. Und nur, wenn ihn das Geschehen zu sehr langweile, greife er ein. Aus diesem Grund etwa habe er den Menschen das Vergessen geschenkt und den Gedanken, es gebe eine Ewigkeit, in der sich das irdische Dasein in Wahrheit vollende.

Auch wenn Goytisolo seinen Ich-Erzähler am Ende aus einem Traum erwachen lässt, bleibt doch der Eindruck des Apokalyptischen dieses komplizierten Romans erhalten. Traumartig auch die Erzählstruktur, die in kurzen Sequenzen, springend zwischen den jeweiligen Bezugsebenen, den Leser in die Innenwelt des Ich-Erzählers mitnimmt. Es gibt keine eigentliche Romanhandlung, sondern nur die fragmentarischen Aufblendungen in die Erinnerungen oder Assoziationen des Helden.

Dieses Verfahren ruft beständig wechselnde, dabei intensive Bilder auf, hinter denen die zugehörigen Geschichten allenfalls schemenhaft angedeutet sind, es bleibt dem Leser vorbehalten, sich diese Geschichten weiter auszumalen.

Der Text pendelt zwischen den zwei wahrnehmbaren Dimensionen des Menschlichen: seiner individuellen und seiner kollektiven Existenz. Während die kollektive, also menschheitliche Existenz als ein langwährendes Scheitern konstatiert wird, das durch die höhnischen Kommentare der Gottfigur obendrein ins Lächerliche gezogen wird, erscheint die individuelle Seite komplizierter. Identität als die Anhäufung von Erfahrungen, Kenntnissen und zwischenmenschlichen Beziehungen wird zugleich vorgeführt als ein parallel verlaufender, selbstreflexiver und mühsamer Kampf gegen das Vergessen, der dem Individuum immer nur Teilsiege erlaubt. Das stark autobiographische Erzähler-Ich nimmt sich da nicht aus, indem es an einer Stelle bilanziert:

"Du bist nicht die Summe deiner Bücher, sondern ihr Rest."

"Der blinde Reiter" ist ein herausragender Roman. In radikaler Verdichtung treibt Goytisolo sein Schreibverfahren bis in die letzte Konsequenz und präsentiert einen Text, der eigentlich eine Skulptur ist. In diesem Werk philosophiert der Autor über die großen Fragen und verwendet als Stoff ausschließlich die eigene Biographie, so dass sich sagen lässt, es ist zugleich Juan Goytisolos philosophischster und persönlichster Roman.


Juan Goytisolo: Der blinde Reiter.
Roman. Aus dem Spanischen von Thomas Brovot.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006,
130 Seiten.
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