Philosophie in Bewegung

Rezensiert von Martin Ahrends · 27.02.2011
Angewandte Philosophie im besten Sinne: Konrad Liessmann untersucht Gegenstände des Alltags und Zeiterscheinungen wie die Eventkultur oder das Fußballfieber im milden Licht ironisch gebrochenen abendländischen Denkens.
Die Philosophen hätten die Welt nur interpretiert, es komme aber darauf an, sie zu verändern, hatte Karl Marx am Beginn des Industriezeitalters geschrieben. Am Ende dieses Zeitalters könnte man seine berühmte Maxime umkehren: Wir haben die Welt bis zur Unkenntlichkeit verändert, und es kommt darauf an, sie wieder einmal zu interpretieren. Konrad Paul Liessmann tut das, und er beginnt beim Nächstliegenden und jedermann Vertrauten, bei einem Fahrrad beispielsweise.

Alle Kunst aber, alles Schöne beginnt dort, wo jeder Zweck aufhört. Erst wenn das Fahrrad weder Transporthilfe noch Verkehrsmittel ist, erst wenn es ganz zu sich gekommen ist und bei sich sein kann, tritt es in einer Reinheit in Erscheinung, die auch nicht durch den Schweiß desjenigen getrübt werden kann, der sich seinen zweckfreien Imperativen überlässt. Und diese lauten: gleiten, klettern und: mit hoher Geschwindigkeit hinabtauchen in die Tiefe des Seins. (S. 146)

Kant und Hegel lassen grüßen, ihre Sprache stößt hier auf die Begeisterung am Rennradfahren. Mit feiner Ironie bringt der Autor in diesem Zusammenstoß beides in Bewegung: das Rennrad ebenso wie die oft als knarzig und hölzern empfundene Sprache der klassischen deutschen Philosophie, die längst nicht mehr Weltsprache der Philosophen ist. Die pathetisch aufgeladene Formulierung bequemt sich zu den schlichten Dingen des Alltags, lodert dabei auf und lässt die Dinge leuchten.
So wird manches aufgewertet, das es auf den ersten Blick nicht zu verdienen scheint: Die neue Lust am Kitsch etwa beschreibt Liessmann als eine Art Rache an den Zumutungen der avantgardistischen Moderne. Andererseits verteidigt er auch die gemeine Schneeschaufel als Kunstwerk, sofern sie durch eine "ästhetische Setzung" zu einem solchen erklärt wurde.

Zeiterscheinungen wie die Eventkultur, das Fußballfieber, der Körperkult, die Pornografie erscheinen hier im milden Licht ironisch gebrochenen abendländischen Denkens. Das ist alles andere als verbissene Kulturkritik, in der Grundhaltung sind diese Aufsätze versöhnlich und ein Angebot, Frieden zu schließen mit den Widrigkeiten unserer Gegenwart.

Philosophische Zitate, die der Professor bei seinen Betrachtungen elegant aus dem Hut zaubert, wirken erfrischend aktuell und alltagstauglich. Man kann Lust bekommen, nach- und weiter zu lesen, bei Hans-Georg Gadamer zum Beispiel, für dessen ästhetische Theorie Liessmann gute Argumente findet: Gadamers Plädoyer für die Nichtunterscheidung zwischen Kunst und Leben hätte ihn…

…in ganz anderer Weise zu einem Theoretiker der ästhetischen Avantgarde machen können als etwa Theodor W. Adorno, der den Wahrheitsanspruch von Kunst an ihre absolute Autonomie und Immanenz gebunden hatte. (S. 120f.)

Gadamer, schreibt Liessmann, habe das Kunstwerk in einem nahezu sakralen Sinn an die Welt zurück binden wollen – im Selbstverständigungsprozess der Menschen.

Kunsterfahrung bedeutet nach Gadamer gerade nicht Kunst zu erfahren, sondern mittels Kunst das Leben zu verstehen. (S. 120)

Die vorliegende essayistische Sammlung scheint in ganz ähnlichem Sinne ans Leben rückgebunden. Liessmann klärt uns über unseren Alltag auf, sein Buch vermittelt zwischen wichtigen, aber weithin ungelesenen philosophischen Texten und einem breiten Publikum, das sich fasziniert und geblendet in einer polierten Dingwelt bewegt, ohne sie zu verstehen. Dies ist keine originäre Zusammenschau, die ihrer eigenen hermetischen Sprache bedürfte, auch kein schwer verdauliches Lehrwerk, sondern etwas drittes, in der Haltung weniger deutsch als angelsächsisch: ein vergnüglich ernstes Erwägen: angewandte Philosophie im besten Sinne. Man kann dem Autor bei der Abstraktion "zusehen", weil hier nie von der Höhe eines schon gefassten Begriffes ausgegangen wird, sondern Begriffe erst gebildet werden anhand der jedermann zugänglichen Erfahrungen.

So kann der Leser den Philosophen in sich entdecken, kann zurücktreten und staunen über die eigenen seltsamen Verrichtungen, die man gemeinhin Alltag nennt.
Ein Fitnessgerät vergleicht Liessmann mit dem Feuerrad des Ixion, das für Schopenhauer zum Ausdruck der Unruhe und Ausweglosigkeit menschlicher Existenz geworden sei.

Wenn man wollte, könnte man in all den Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, die Bewegungen des Laufens, Radfahrens, Ruderns, Steigens simulieren, ohne auch nur einen Zentimeter voranzukommen, die Wahrheit der fetischisierten Mobilität unserer Gesellschaft erblicken: Alles ist ständig in Bewegung, einmal hier, dann wieder dort, immer schneller und immer woanders, aber am Ende hat sich nichts bewegt. (S. 160)

In ihrer Mehrzahl sind die hier versammelten Aufsätze bereits erschienen und für die Buchausgabe überarbeitet. Von der eingangs zitierten "Hommage auf das Rennrad" heißt es im Nachwort, dass sie zunächst für die Tageszeitung "Standard" geschrieben und "Auszüge daraus mehrfach nachgedruckt" worden seien. In ähnliche Sätze, wie Liessmann sie für das Rennrad findet, könnte man wohl auch die Begeisterung am Cabrio fassen, fürs Gleiten, Klettern und die Talfahrt mit einem so ganz und gar zweckfreien Automobil. Seine eleganten Sätze könnten auch in einem Werbeprospekt für gehobene Ansprüche ihre Funktion erfüllen. Was sogar verzeihlich wäre, weil dieser Autor Geist und Welt versöhnen will, weil Konrad Paul Liessmann ein Philosoph für alle ist.

Konrad Paul Liessmann: Das Universum der Dinge
Zsolnay
Buchcover: "Das Universum der Dinge" von Konrad Liessmann
Buchcover: "Das Universum der Dinge" von Konrad Liessmann© Zsolnay