Philosophie

Fortwährend der Zukunft entgegenstürzend

Peter Sloterdijk
Der Philosoph Peter Sloterdijk, aufgenommen 2012. © dpa / Andreas Gebert
Von Philip Kovce · 15.06.2014
Lenin, Hitler, Napoleon: Sie alle brachen mit dem Herkömmlichen, brachen mit ihren Vätern, wie der Philosoph Peter Sloterdijk das beschreibt. Ob sie damit erfolgreich waren oder scheiterten, ist dabei irrelevant, die gesellschaftliche Bedeutung geht darüber hinaus. Auf diese Weise erklärt Sloterdijk das Phänomen des Individualismus - und deckt nebenbei noch einen Skandal auf.
Peter Sloterdijk ist ein Schriftgelehrter. Er entlockt den Lettern immer wieder poetische Bilder und treffende Formulierungen. Seine Bücher verlegt er schon seit Jahren erfolgreich bei Suhrkamp. Und während er dort für steigende Verkaufszahlen sorgt, versorgt er das Feuilleton mit Stoff für Skandale. Seine Phantasie, so heißt es, ginge dann und wann in die falsche Richtung.
All diejenigen, die das behaupten, können das neue Sloterdijk-Buch ganz gelassen zur Hand nehmen. Denn es finden sich dort keinerlei Motive, die an eine Verherrlichung der Menschenzüchtung oder an eine Verteufelung des Steuerstaates erinnern. Beides wurde Sloterdijk in der Vergangenheit vorgeworfen.
Diesmal erweist sich Sloterdijk als Historiker, der es vor allem auf ein Phänomen abgesehen hat: auf die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Diese bekleiden bei ihm unterschiedliche Positionen und tragen prominente Namen. Sie fungieren als Übermenschen, Anarchisten, Psychopathen, Sozialisten, Feldherren, Faschisten, Manager, Egoisten, Schriftsteller, Terroristen, Propheten oder Nihilisten und lassen sich Jesus, Paulus, Platon, Augustinus, Napoleon, Nietzsche, Lenin, Stalin, Himmler, Hitler, Balzac, Shakespeare, Carnegie oder Schumpeter rufen.
Neuzeit als Zeit starker Individuen
Doch was berechtigt diese Persönlichkeiten, als schreckliche Kinder der Neuzeit zu gelten? Sie alle sind Beispiele für den einen Gedanken, der Sloterdijk leitet: Nämlich die Neuzeit als die Zeit starker Individuen zu deuten, die sich selbst ermächtigt haben, aus dem ewigen Kreislauf von Sitte und Tradition, Abstammung und Vererbung auszubrechen.
Den Ausbruch beschreibt er als Bruch mit den Vätern. Die schrecklichen Kinder verschmähen ihr familiäres und kulturelles Erbe. Dabei bedeutet "schrecklich“ hier nicht, dass sie verwerflich gehandelt hätten, sondern dass sie ihren Vätern und ihrer Zeit etwas zugemutet haben: Sie haben andere erschrocken oder wurden als Schrecken wahrgenommen.
"Was besteht und beharrt, wird im Unrecht sein; was vorwärts geht und für Freiheiten trommelt, hat alles Recht auf seiner Seite. Das erwachende Ungeheuer erweist sich als ein moralisierendes Geschöpf. Von Anfang an verfügt es über Wege und Mittel, das Gewesene ins Unrecht zu setzen."
Unermüdlich fängt Sloterdijk Szenen ein, welche den Ausbruch aus dem Gewesenen in eine andere Gegenwart symbolisieren.
Lenins imaginierte Weltrevolution, Hitlers Vision eines tausendjährigen Reiches oder Napoleons Feldzüge bezeichnet Sloterdijk als historische Stürze, gemeint als ein Verhalten, das aus dem Herkömmlichen herausfällt und allein dadurch eine gesellschaftliche Wirkung erzeugt – egal, ob es am Ende als erfolgreich oder als gescheitert gilt. Die schrecklichen Kinder der Neuzeit stürzen fortwährend ihrer Zukunft entgegen.
Der Bruch mit den Vätern setzt Energien frei
Zwei Grundsätze formuliert Peter Sloterdijk zu diesem Phänomen. Der erste lautet: Jede Geschichte ist besser als keine Geschichte. Der zweite heißt: Der Bruch mit den Vätern setzt mehr Energien frei, als die Überlieferungen binden können. Also erfinden die schrecklichen Kinder der Neuzeit reihenweise neue Mythen. Sie brauchen neue Rechtfertigungen, die sie anstelle der alten setzen. Heute versprechen Ökonomen Wachstum und Politiker Wohlstand, während die Einzelnen auf privates Glück und persönliches Geschick vertrauen.
Doch wie lässt sich Sloterdijks These vom Bruch mit den Vätern historisch verorten? Ist sie plausibel nachzuzeichnen? Man verkennt diesen immer wiederkehrenden Bruch, wollte man ihn an einem einzigen Ereignis festmachen. Er beginnt schon mit dem biblischen Weltenanfang, indem sich Adam das Paradies verdirbt, weil er sich nicht an Gottes Wort hält. Adams Verhalten wächst sich zu einem Zivilisationsphänomen aus: dem Individualismus.
"Weil in der Moderne die Traditionsfäden häufiger reißen, nimmt das Risiko fortwährend zu, dass die Individuen zu 'Kindern ihrer Zeit' unbekannten Typs werden."
Das vielleicht bedeutendste Beispiel eines schrecklichen Kindes der Neuzeit ist Jesus von Nazareth. Sloterdijk nennt ihn einen Bastard Gottes. Und zwar deshalb, weil er seine traditionell-jüdische und seine familiäre Herkunft transzendiert. Anstelle eines leiblichen wählt er sich einen göttlichen Vater. Das macht ihn in den Augen des Philosophen zu einem genialischen Individualisten und eben göttlichen Bastard.
Lesart-Cover: Peter Sloterdijk "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit"
Cover: Peter Sloterdijk "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit"© Suhrkamp Verlag
Ob in politischer, ökonomischer, religiöser oder sonstiger Hinsicht: Sich selbst seinen Vater zu wählen und dennoch sein eigener Herr zu bleiben – das ist für Sloterdijk das Urbild, dem alle schrecklichen Kinder der Neuzeit mehr oder weniger erfolgreich nacheifern.
"Nota bene: 'Individuum' im spezifischen, nicht bloß generischen Sinn ist, wer im eigenen Dasein einen Kulturwandel austrägt.“
Der Skandal, den diese Sloterdijk-Lektüre aufdeckt, ist der, dass wir uns falsch verstanden haben – zu sehr als Ausgeburten der Herkunft anstatt als Zeugen des eigenen Tuns. Es gelingt dem Karlsruher Philosophen, diesen Irrtum zu korrigieren und uns in der Gegenwart des Hyper-Individualismus zu begrüßen.

Peter Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
489 Seiten, 26,95 Euro, auch als ebook

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