Philosophie

Eine Gedankengeburt

Peter Sloterdijk
Der Philosoph Peter Sloterdijk, hier auf einem Bild vom Oktober 2012. © dpa / Andreas Gebert
Von Jürgen Kaube · 27.06.2014
Der Philosoph Peter Sloterdijk schreibt in seinem neuen Buch eine philosophische Geschichte der Neuzeit, in der das Schreckliche der Normalfall ist. Modern ist für Sloterdijk die Rücksichtslosigkeit gegen das, was kommt. Nach dem Motto: Nach uns die Sintflut.
Die Moderne, hat uns Jürgen Habermas wissen lassen, sei ein "unvollendetes Projekt". Das zwingt Philosophen wie ihn, alles, was seit dem achtzehnten Jahrhundert die Geschichte schrecklich gemacht hat, als un- oder widermodern zu bezeichnen. Peter Sloterdijk hat dieses Problem nicht. In seinem neuen Buch schreibt er eine philosophische Geschichte der Neuzeit, in der das Schreckliche der Normalfall ist. Sie beginnt mit dem Satz der Madame Pompadour "Nach uns die Sintflut". Modern ist für Sloterdijk also die Rücksichtslosigkeit gegen das, was kommt - aber auch gegen das, was war. Nach uns die Sintflut, das hieß auch 1757: Wir leben so, wie uns ist, selbst wenn dadurch alles verspielt wird.
Das ist das Leitmotiv dieses Buches: Die moderne Gesellschaft als eine, die wenig auf Traditionen und "Erbe" gibt, sondern mit allen Mitteln eine ganz unwahrscheinliche Dynamik entfaltet. Politisch illustriert das Sloterdijk durch die totalitären Systeme, die den Krieg zum Normalzustand erklären. Ökonomisch durch das Schuldenmachen als Erkennungszeichen moderner Wirtschaftspolitik. Ästhetisch durch die Avantgarden, die das Neue um des Neuen willen sich auf die Fahnen geschrieben haben.
Sloterdijk verzichtet dabei anders als in früheren Büchern weitgehend auf eine Privatterminologie. In Begriffe wird nicht viel investiert, dafür in Geschichten. Man könnte sie didaktisch nennen, Sloterdijk erzählt signifikante Episoden der jüngeren Historie: Hamlet, der über die Zeit klagt, die "aus den Fugen" sei, Napoleon als erster moderner Imperator, Lenin und Stalin als Strategen einer beispiellos gewalttätigen Gesellschaftsumwälzung, die geldpolitischen Verabredungen von Bretton Woods - und so weiter. Mitunter ist man erstaunt, wenn man auf Thesen wie die trifft, dass wir in einer Zeit permanenter Inflation leben - obwohl doch gerade die Kreditzinsen negativ sind und die Sorge vor Deflation über der Wirtschaft hängt. Und ob "Bodenlosigkeit" und "anti-genealogisches Denken" als Begriffe wirklich ausreichen, um die moderne Gesellschaft zu beschreiben?
Nicht weit von Jürgen Habermas entfernt
Alles in allem aber erkennt man sie bei Sloterdijk wieder: Wir ahmen eher Zeitgenossen nach - in der Mode - als Ahnen, wir drängen traditionale Herrschaft zugunsten offener Verfahren zurück, die moderne Ehe gründet eine Familie und setzt nicht eine fort, für uns soll jedes Individuum die Chance haben, von vorn zu beginnen. Alles ist auf Wahl gestellt. Für uns ist das Neue nicht automatisch monströs. Sloterdijk verortet den Ursprung dieser Bereitschaft, Freiheit zu riskieren und mit Vergangenem radikal zu brechen, ganz im Sinne seines philosophischen Vorbildes, Friedrich Nietzsche, im Christentum. Der ganze zweite Teil des Buches gilt dieser Ableitung. Die "Kinder des Abgrunds" sind Gotteskinder.
Das trifft natürlich auf die Schwierigkeit, dass das Christentum zugleich die offizielle Religion jener alten Welt war, von der sich die Moderne verabschiedet. Sloterdijk löst diesen Widerspruch, indem er mehrere Christentümer ins Spiel bringt: ein radikales und ein konservatives. Überhaupt gibt er ungeheuer viel auf Ideen. Die moderne Welt ist für ihn eine Gedankengeburt. Womit er so weit von Jürgen Habermas dann doch nicht entfernt wäre.

Peter Sloterdijk: "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
489 Seiten, 26,95 Euro

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