Philosophie des Experiments

Am eigenen Schopf aus dem Sumpf

41:22 Minuten
Illustration: Verschiedene Reagenzgläser mit unterschiedlichem Inhalt auf orangenem Hintergrund.
Produktives Nichtwissen: Ein gutes Forschungsexperiment bereitet den Boden für unverhoffte Entdeckungen, meint Hans-Jörg Rheinberger. © imago / Ikon Images / Josy Bloggs
Hans-Jörg Rheinberger im Gespräch mit Wolfram Eilenberger · 17.10.2021
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„Bloß keine Experimente“, so lautet ein Credo des Konservativismus. Dabei sei das Experiment nicht nur ein Grundprinzip moderner Forschung, es präge auch unsere gesamte Lebensweise, sagt der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger.
Mit dem Slogan "Keine Experimente!" erzielten die CDU und ihr Spitzenkandidat Konrad Adenauer 1957 ein Rekord-Wahlergebnis. Heute steht die Parole geradezu sprichwörtlich für einen gesamten konservativen Weltzugang: politisch, ökonomisch, lebensästhetisch. Auch im Bundestagswahlkampf 2021 zitierte ein Politmagazin sie auf seinem Titel und stellte die Frage in den Raum, wie viel Veränderung sich die Deutschen wünschen.

Verstrickt in Alltagsexperimente

"Es ist ja interessant zu beobachten, dass dieser Slogan immer noch verfängt, obwohl wir uns in einer Gesellschaft bewegen, in der wir von lauter Real-Experimenten umgeben sind", sagt Hans-Jörg Rheinberger, Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Im Hinblick auf soziale und technologische Veränderungen seien wir in vielen Alltagssituationen heute Teil von Experimenten mit ungewissem Ausgang, so Rheinberger. Von daher verstehe er das konservative Motto als eine Art "Schutzbehauptung gegen die eigene Wirklichkeit".
In seinem Buch "Spalt und Fuge. Eine Phänomenologie des Experiments" erörtert der Wissenschaftshistoriker und Molekularbiologe die zentrale Bedeutung des Experimentierens für die Forschung und für unsere moderne Lebensweise. Dabei interessiert ihn besonders ein Element des "Nichtwissens", der Unvorhersehbarkeit, das zu völlig überraschenden Erkenntnissen führen könne.

Unerwartete Entdeckungen

Als Beispiel nennt Rheinberger die Entdeckung der sogenannten "Transfer-RNA", eines Moleküls mit unerwarteten Eigenschaften, das zunächst in kein bekanntes System der Chemie zu passen schien. Doch bei genauerer Untersuchung habe es die Initialzündung zur Entschlüsselung des genetischen Codes gegeben.
Porträt von Hans-Jörg Rheinberger. Molekularbiologe, Wissenschaftshistoriker und Philosoph, 2016.
Tüfteln und Erproben: Der Wissenschaftshistoriker und Molekularbiologe Hans-Jörg Rheinberger plädiert für eine Kultur des Experimentierens.© picture alliance / dpa / Roland Popp
Manchmal führten auch äußere Umstände zu einem unverhofften Durchbruch, sagt Rheinberger. So sei die Entwicklung eines wirksamen Corona-Impfstoffs binnen eines Jahres nur möglich gewesen, weil verschiedene Forschungsteams bereits seit 20 Jahren versuchten, einen Impfstoff gegen Krebs zu entwickeln. Das dabei entwickelte Verfahren habe sich für den Schutz gegen Covid-19 als äußerst hilfreich erwiesen.

Kontrollierter Kontrollverlust

Während der Pandemie sei indessen auch deutlich geworden, dass die Erwartung, Gewissheit und Sicherheit zu bieten, die Wissenschaft vor große Herausforderungen stelle. Gerade in Krisenzeiten werde von der Forschung erwartet, dass sie eindeutige Antworten und klare Handlungsempfehlungen gebe, während die Situation sich mit großer Dynamik verändere und noch unzureichend untersucht sei, sagt Rheinberger: "Da den richtigen Weg zu finden, auf der einen Seite zum Ausdruck zu bringen, was jetzt getan werden muss, und auf der anderen Seite nicht so zu tun, als ob man alles wüsste, das ist die hohe Kunst der Kommunikation zwischen Wissenschaft und Gesellschaft."
In seiner Darstellung der wissenschaftlichen Praxis betont Rheinberger deshalb das gemeinsame Experimentieren, das eine Offenheit für das Unerwartete voraussetze und die ständige Bereitschaft, bisherige Annahmen zu revidieren. Das Wesen der Forschung sieht er in einer Art kontrolliertem Kontrollverlust oder "kanalisierter Kontingenz". Statt von "Analyse" und "Synthese" spricht Rheinberger daher lieber von den Prinzipien "Spalt" und "Fuge":
"Analyse heißt auseinandernehmen, und zwar sauber, und Synthese heißt zusammenbringen, und zwar so, dass man hinterher nicht mehr sieht, wo sich die Naht, befindet. Spalt und Fuge stehen für Prozesse, die sehr viel unsauberer sind: Ein Spalt tut sich eben auf und wird nicht hineingeschlagen, und eine Fuge fügt Dinge zusammen, sodass man noch sieht, wo sie aufeinanderstoßen."

Methode Münchhausen

Wissenschaft sei in diesem Sinne viel stärker, als es lange Zeit wahrgenommen wurde, von einem Prinzip des praktischen Erprobens und Tüftelns geprägt. Große übergreifende Theoriegebäude oder die Entdeckungen einzelner großer Geister seien demgegenüber von der Wissenschaftsgeschichte eher überschätzt worden, meint Rheinberger.
Eine experimentelle Haltung empfiehlt er auch mit Blick auf die großen Herausforderungen unserer Zeit, vom Klimawandel bis zum Artensterben: "Wir sind einfach in einer Münchhausen-Situation – aber das waren wir immer schon als Menschheit: Es gibt keinen anderen Weg, als uns an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen."
(fka)

Hans-Jörg Rheinberger: "Spalt und Fuge. Eine Phänomenologie des Experiments"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021
289 Seiten, 22 Euro

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