Philosophie der Befreiung

Wenn Erschütterungen neue Horizonte öffnen

31:37 Minuten
Walter White (Bryan Cranston) vergräbt mitten im Nirgendwo ein Geheimnis.
Ausbruch aus einer öden, bedrängten Existenz: Walter White (Brian Cranston mit Filmpartnerin Anna Gunn) in einer Szene der Serie "Breaking Bad" © picture alliance / dpa / Frank Ockenfels 3 / Sony Pictures
Christoph Menke im Gespräch mit Wolfram Eilenberger · 11.12.2022
Audio herunterladen
Viele Befreiungsbewegungen sind in neue Herrschaftsformen und Unfreiheit umgeschlagen. Deshalb sollten wir über den Begriff der Freiheit neu nachdenken, meint der Philosoph Christoph Menke. Er entwickelt daraus eine Theorie der Selbstbefreiung.
Wer frei ist, kann Entscheidungen treffen: darüber, wohin er oder sie gehen will, über das eigene Tun und Lassen, die eigenen Werte und Ziele. Auf diese Weise, vom einzelnen Individuum ausgehend, ist Freiheit in der europäischen Philosophie seit der Antike meist gedacht worden: Das Ideal des freien Subjekts, das selbstbestimmt handelt, stand im Gegensatz zu Sklaven oder auf andere Weise Unfreien, denen gesagt wird, was sie zu tun haben.

Anstoß für einen Akt der Befreiung

Der Philosoph Christoph Menke entwirft einen Freiheitsbegriff, der von ganz anderen Voraussetzungen ausgeht. "Freiheit ist nichts Gegebenes", sagt Menke, "sondern Freiheit ist immer erst im Entstehen, immer neu hervorzubringen." Damit sich ein Mensch befreien kann, braucht es nach Menkes Auffassung einen äußeren Anlass: Ein transformatorisches Ereignis, das zum Anstoß für einen Akt der Befreiung wird.
In seinem Buch "Theorie der Befreiung" macht Menke dies anhand von zwei Befreiungserzählungen deutlich, die auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein könnten: die Exodus-Erzählung aus dem zweiten Buch Mose und die Geschichte von Walter White, der sich in der Fernsehserie "Breaking Bad" von einem krebskranken Chemielehrer zum mächtigen Drogenbaron wandelt.

Bruch mit der bisherigen Weltsicht

Beide Geschichten haben gemeinsam, dass ihre Hauptfiguren eine Erfahrung machen, die ihre bisherige Weltsicht erschüttert und ihnen neue Wege aufzeigt. Für Mose wird die widernatürliche Erscheinung eines brennenden Dornbuschs zu einem Zeichen Gottes, in dessen Auftrag er schließlich sein Volk aus der Sklaverei befreit. Walter White erkennt durch einen TV-Bericht, dass sein Wissen über Chemie ausreicht, um als Chrystal-Meth-Produzent ein Vermögen zu machen.

Man muss nicht an Gott glauben, damit einem ein Wunder geschehen kann.

Christoph Menke, Philosoph

Die religiöse oder quasi-transzendente Dimension der jeweiligen Erfahrungen spielt für Menke dabei nicht die entscheidende Rolle. Es kommt ihm vielmehr darauf an, dass die Befreiung den handelnden Personen nicht kraft besonderer Fähigkeiten gelingt, sondern der Anstoß dazu ihnen gewissermaßen passiv widerfährt.

Vermeintliche Sicherheit des eigenen Urteils

"Die Befreiung wird eigentlich nicht getan – oder sie wird erst getan, nachdem sie mir geschehen ist", sagt Menke: "Ich habe eine Erfahrung gemacht, die hat mich geradezu herauskatapultiert aus meiner Existenz, und dann ist immer die Frage: Mache ich etwas daraus, oder mache ich nichts draus?"
Menke verbindet mit dieser Perspektive auf Freiheit auch die Hoffnung, dass wir lernen könnten zu verhindern, dass gesellschaftliche Befreiungsbewegungen über kurz oder lang "neue Formen der Ausgrenzung und der Knechtschaft" hervorbringen. Er sei immer skeptisch, wenn solche Bewegungen glaubten, "schon zu wissen, was Freiheit ist". Denn wirkliche Freiheit liege vielmehr darin, uns von der vermeintlichen Sicherheit unserer Urteile zu befreien.

Christoph Menke: "Theorie der Befreiung"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022
720 Seiten, 36 Euro

Mehr zum Thema