Enrique Dussels Philosophie der Befreiung

Auf dem Weg zur "Transmoderne"

Der Philosoph Enrique Dussel in einer Aufnahme von 2013
Der Philosoph Enrique Dussel in einer Aufnahme von 2013 © imago stock&people
Von Sophia Boddenberg · 12.11.2017
Enrique Dussel zählt zu den Hauptvertretern der Philosophie der Befreiung. Außerhalb Lateinamerikas ist diese Strömung jedoch kaum bekannt. Dabei könnte sie dabei helfen, die Probleme der Moderne zu überwinden - etwa indem sie hilft, den Eurozentrismus zu überwinden.
"Ich bin ein Denker, ein Philosoph, ich habe in Europa studiert, Heidegger, Husserl, Hegel, Kant. Nach zehn Jahren in Europa und zwei Promotionen kam ich nach Lateinamerika zurück und begann, Lateinamerika zu denken."
Enrique Dussel wird im Jahr 1934 in Mendoza in Argentinien geboren, wo er seine philosophische Grundausbildung erhält. Ende der 50er-Jahre verlässt er Argentinien und geht nach Europa. Bis dahin ist Philosophie für ihn gleichbedeutend mit europäischer Philosophie.

"Europa ist eurozentrisch ohne es zu wissen"

In Europa wird ihm Lateinamerika als Wurzel seines Denkens bewusst. Die europäische Sicht auf die Moderne erscheint ihm immer mehr als eine Illusion.
"Europa ist eurozentrisch ohne es zu wissen. Unsere Eliten sind eurozentrisch ohne es zu wissen. Wir haben alle die Geschichte gelernt: Antike, Mittelalter, Moderne. Wer hat sie erfunden? Die deutschen Romantiker. Novalis, Schlegel, Schiller, Hegel. Sie haben eine Weltgeschichte erfunden, in der Europa das Zentrum und das Ziel der Weltgeschichte ist. Alle sagen das. Alle Europäer. Alle Nordamerikaner. Alle unsere Eliten in Lateinamerika. (Auch die Afrikaner und Asiaten.) Wir Lateinamerikaner existieren nicht in dieser Aufteilung. Wir kommen weder in der Antike noch im Mittelalter vor und in der Moderne wurden wir erobert. Das ist nicht die Geschichte. Sie ist viel komplizierter."

"Das Nichtsein sind die Barbaren"

Im Jahr 1967 kehrt Dussel nach Argentinien zurück. In Lateinamerika herrscht eine revolutionäre Stimmung. Inspiriert von der Kubanischen Revolution brechen in zahlreichen Ländern soziale Kämpfe gegen die verhärteten oligarchischen Herrschaftsverhältnisse aus. Dussel beginnt mit der Ausarbeitung einer "Ética de la liberación latinoamericana", die insgesamt fünf Bände umfassen wird.
"In dieser Welt gibt es unterdrückte Menschen, die das System ausgeschlossen hat. Parmenides sagte 'Das Sein ist, das Nichtsein ist nicht'. Das Sein sind die Griechen – die Europäer, die Nordamerikaner, die Weißen. Das Nichtsein sind die Barbaren - die Schwarzafrikaner, die Indigenen, die koloniale Welt. Wir sind die Opfer einer weltweiten ungerechten Situation und das ist nicht ethisch. Deshalb müssen wir uns dagegen auflehnen und das heißt, uns zu befreien."

"Der Untergang der Moderne"

Der moderne Wille zur Macht entlädt sich laut Dussel nicht erst mit dem europäischen Holocaust, sondern bereits mit dem Genozid der indigenen Völker Lateinamerikas. Gerade diese indigenen Kulturen, die aus europäischer Sicht immer als irrational, barbarisch und primitiv angesehen worden sind, seien rationaler als die moderne Zivilisation, die den Planeten zerstört.
"Die Mythen sind rationale Erzählungen, basierend auf Symbolen. Wir stoßen an den Untergang der Moderne. Wenn wir so weitermachen, wird der Homo Sapiens verschwinden. Und die indigenen Völker könnten noch 100.000 Jahre weiterleben. Denn sie respektieren die Natur. Ich sage nicht, dass wir dahin zurückkehren sollen, aber wir haben viel zu lernen. Die Lebensweisen dieser Kulturen erlauben uns, den Weg des Selbstmords zu korrigieren, auf dem wir gehen."

Weder Antimoderne noch Idealisierung der Vormoderne

Auch wenn Dussel scharf die Moderne kritisiert, ist seine Befreiungsphilosophie weder simpler Antimodernismus noch eine Idealisierung prämoderner Kulturen, auch kein Postmodernismus. Der Gegendiskurs der Moderne ist für ihn die "Transmoderne".
"Die Peripherie gewinnt ihre Selbstwertschätzung zurück. Deshalb brauchen wir einen Dialog innerhalb des Südens. Um zu diskutieren, wer wir sind. Aber wir brauchen auch einen Dialog mit der Moderne. Wir können die Moderne nicht komplett ablehnen, so wie es der arabische Fundamentalismus tut. Wir müssen das auswählen, was für die eigene Kultur wertvoll ist, ohne dass es aufgezwungen wird. Und in die Richtung einer neuen Welt gehen. Es wird ein anderes Wirtschaftssystem geben, ein partizipativeres politisches System, einen interkulturellen Dialog. Das ist die Transmoderne."
1975 wird Dussel vom rechten Flügel des Peronismus aus Argentinien vertrieben und geht ins Exil nach Mexiko. Dort erhält er an der berühmten Universidad Nacional de México - eine Professur in Philosophie. Bis heute lebt er in Mexiko.
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