Philosoph zur Coronakrise

"Auch mal aus der Aufgeregtheit aussteigen"

08:36 Minuten
Der Schweizer Kulturphilosoph Andreas Urs Sommer
Der Schweizer Kulturphilosoph Andreas Urs Sommer staunt über die Fähigkeiten seiner Mitmenschen in der Krise. © picture alliance/Geisler-Fotopress / Christoph Hardt
Andreas Urs Sommer im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
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Angesichts geschrumpfter Handlungsmöglichkeiten brauchen wir in der Coronakrise Gelassenheit, sagt der Kulturphilosoph Andreas Urs Sommer. Also das Unvermeidliche hinnehmen und sich im verkleinerten Möglichkeitsraum einrichten.
"Die Menschen sind tatsächlich vor völlig neue Herausforderungen gestellt", sagt der Schweizer Kulturphilosph Andreas Urs Sommer. Zu normalen Zeiten gebe es eine Fülle von Möglichkeiten, die nun durch die Coronakrise stark verringert würden. Der "Möglichkeitsraum" sei derzeit auf ein paar wenige Möglichkeiten geschrumpft und viele selbstverständliche Freiheiten seien eingeschränkt. "Wir müssen jetzt versuchen – und das machen wir recht erfolgreich – uns in dieser eingeschränkten Möglichkeitssphäre zurechtzufinden und rauszufinden, was es dann doch noch an Möglichkeiten gibt." Aber es bestehe die Gefahr, dass einem dabei die Decke auf den Kopf falle.

In der Krise zeigen sich erstaunliche Fähigkeiten

Heute könne es helfen, sich auf bestimmte Appelle der Philosophie des 20. Jahrhunderts zu besinnen, sagt Sommer. Die Gelassenheit werde dort als Hinnehmen des Unvermeidlichen beschrieben. Es falle aber heute vielen schwer zu akzeptieren, dass man nicht alles unter Kontrolle habe. "Aber wir haben da doch erstaunliche Fähigkeiten", sagt Sommer. Er staune darüber, wie viele Leute in seiner unmittelbaren Umgebung beispielsweise eine alte Dame in der Nachbarschaft fragten, ob sie ihr helfen könnten. Deshalb sei er keineswegs pessimistisch, dass diese schwierige Zeit nicht nur überstanden, sondern gut genutzt werde. Aber diese anfängliche Gelassenheit könne sich verflüchtigen, wenn der Zustand lange andauere.
"Die Gelassenheit ist ein philosophischer Modebegriff im 20. Jahrhundert geworden", so Sommer. In früheren Zeiten sei er eher ein religiöser Begriff gewesen, der aus der deutschen Mystik des Mittelalters stamme. Damals habe man ein "Aufgeben jedes Eigenwillens" darunter verstanden, damit man für "das Göttliche" völlig frei werde und die Transzendenz in einen einfließen könne. "Das ist den meisten von uns heute fremd geworden."

Alte Münzen als Selbstberuhigung

Für ihn persönlich habe seine Münzsammlung gerade eine selbsttherapeutische Funktion, so Sommer. Es sei zwar schön, online viele Kontakte aufrecht zu erhalten, aber man könne sich auch in Nachrichtentickern verlieren. "Wenn man dann etwas ganz Konkretes hat, etwas Handfestes, wie in meinem Falle die Münzen, ist das schon ein Mittel zur Selbstberuhigung." Er besitze sehr alte Münzen, die schon viele Menschen überlebt hätten. "Mit dieser physischen Präsenz konfrontiert zu sein, macht mich in gewisser Weise auch demütig", sagt Sommer. "Es hat sehr viel für sich, aus der Corona-Aufgeregtheit auszusteigen und zu sagen, jetzt mach ich mal etwas völlig anderes." Das könne bedeuten, dass man sich seinen Münzen beschäftigt oder seinen Balkon bepflanze. "Tausend Möglichkeiten bieten sich da, die man jetzt entdecken kann." Auch ein gutes Buch zu lesen, sei keine schlechte Hilfe.
(gem)
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