Philosoph Günther Anders

Denken im Angesicht der Apokalypse

28:59 Minuten
Schwarzweißfoto von Günther Anders mit weißem Haar und dicker Brille, der sich auf einem Stuhl sitzend zur Kamera umdreht.
Wo andere sich der Faszination des Fortschritts hingaben, schaute er auf die Schattenseiten: der deutsch-jüdische Philosoph Günther Anders (1902-1992). © picture alliance / brandstaetter images / Barbara Pflaum
Christian Dries im Gespräch mit Catherine Newmark · 08.01.2023
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Technischer Fortschritt kann uns überfordern und zur existenziellen Bedrohung werden. Davor warnte Günther Anders angesichts der Atombombe. Sein Denken ist wieder hochaktuell, meint der Philosoph Christian Dries, auch mit Blick auf den Klimawandel.
Der Mensch ist darauf angewiesen, sich mithilfe von Technik in der Welt einzurichten, so lautete eine Grundüberzeugung des Philosophen Günther Anders. Er beobachtete aber auch schon früh, dass Geräte und komplexe Technologien unseren Horizont überschreiten und uns somit überfordern können.

Technik lässt uns alt aussehen

Dass wir "der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen" sind, wie Anders schrieb, ist eine Erfahrung, die frustrieren und sogar Scham auslösen kann, sagt der Philosoph Christian Dries. "Im Angesicht dieser Perfektion fühlen wir uns selbst als Menschen irgendwie minderwertig", erklärt Dries, der 2012 die Günther-Anders-Gesellschaft mitgegründet hat. Die "Antiquiertheit des Menschen", Anders' Hauptwerk aus dem Jahr 1956, wurde zum Schlagwort für diesen Befund.

Wir können wunderbare technische Geräte entwickeln, wir verstehen sie aber immer weniger. Wir können mehr herstellen, als wir uns eigentlich vorstellen können.

Christian Dries, Philosoph

Was die Technik vermag, übersteigt unser Vorstellungsvermögen: Angesichts der Atombombe erkannte Günther Anders, welche Gefahr in dieser Überforderung steckt. Die Bombe versetzte die Menschheit in die Lage, sich selbst zu vernichten. Damit machte sie die Erdenbürger zu "Herren der Apokalypse" - und im selben Moment zu "ohnmächtigen Titanen". Die sich der atomaren Bedrohung gar nicht bewusst sind.
Anders, der sich sowohl in der Friedensbewegung als auch in der Anti-Atom-Bewegung engagierte, sah es darum als wichtige Aufgabe an, die Menschen aufzurütteln - auch mit dem Mittel der moralischen Übertreibung.

"Ein Urgroßvater von Greta Thunberg"

Die drohende Klimakatastrophe stelle uns heute vor ganz ähnliche Herausforderungen, sagt Christian Dries. Mit seiner Methode, beim emotionalen Verhältnis Mensch-Technik-Umwelt anzusetzen, könne Anders als "eine Art Urgroßvater von Greta Thunberg" gelten. Ihre gemeinsame Botschaft: "Wir müssen erst mal begreifen, wie dramatisch die Lage wirklich ist, um dann vielleicht auch wirklich ins Handeln zu kommen."
Dabei sei "moralische Fantasie" gefordert: "Wir müssen uns vorstellen, wohin könnte die Entwicklung gehen?" Günther Anders habe immer dafür plädiert, bei technologischen Entwicklungen "Gegenfahrbahnen" einzubauen, so Dries, "also auch den Rückweg mitzubedenken: Kommen wir aus einer bestimmten Entwicklung notfalls auch wieder zurück?"
Eine Frage, die heute angesichts der Klimakrise akuter denn je erscheint.

Christian Dries: "ad Günther Anders. Exerzitien für die Endzeit"
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2023
(erscheint im Februar)
208 Seiten, 18 Euro

Günther Anders: "Die Weltfremdheit des Menschen. Schriften zur philosophischen Anthropologie"
Herausgegeben von Christian Dries und Henrike Gätjens
C.H.Beck, München 2018
544 Seiten, 44 Euro

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