Philosoph Günther Anders

Der Blick vom Turm

Ein historisches schwarz-weiss Porträt von Günter Anders, 1965.
Den Ersten Weltkrieg, Hitlers Machtantritt und die Einrichtung der Konzentrationslager hat Günther Anders als Zäsuren erlebt. © picture alliance / imagno / Barbara Pflaum
Von Lou Brouwers · 09.07.2022
Günther Anders widmete sein Denken der atomaren Bedrohung und schrieb unermüdlich gegen unsere „Apokalypseblindheit“ an: Seine Technikphilosophie kreist um unsere technologische Selbstabschaffung – und hat heute nichts von ihrer Relevanz verloren.
„Ich habe vor dem weißen Papier gesessen und versucht, über die Ungeheuerlichkeit zu schreiben, und fand nicht die Worte. Und konnte mir auch das, worüber ich schreiben wollte, nicht vorstellen. Und da habe ich einen philosophischen Trick angewandt und habe gesagt: Die Tatsache, daß ich das nicht kann, ist vielleicht das Schreckliche.“
So beschreibt Günther Anders 1978 in einem Interview die Annäherung an sein Lebensthema: die Atombombe und die Unvorstellbarkeit der von ihr angerichteten Zerstörung – unsere „Apokalypseblindheit“. Gegen die hat der Schriftsteller und Philosoph vehement angeschrieben. In seinem Essay „Über die Bombe“ versucht Anders die Konsequenzen eines Atomkriegs fassbar zu machen:

„Was übrigbliebe, wäre keine geschichtliche Situation mehr; sondern ein Trümmerfeld, unter dem alles, was Geschichte einmal gewesen, begraben läge. Und wenn der Mensch doch überlebte, dann nicht als geschichtliches Wesen, sondern als ein erbärmlicher Überrest: als verseuchte Natur in verseuchter Natur. (…) Und wir lesen es in den Zeitungen. Und wie reagieren wir darauf? Eben so, wie wir auf Zeitungsnachrichten reagieren: Gar nicht. (…) Aber wo ist unsere Angst? Ich finde keine. (…) Wie ist das möglich?“

Kluft zwischen Herstellen und Vorstellen

Die Entwicklung der Atombombe ist für Anders der Beginn eines neuen technologischen Zeitalters, das mit dem Atombombenabwurf über Hiroshima am 6. August 1945 anfing. Ausgehend von der Atombombe entwickelt Anders ab den 1950er-Jahren eine ganze Technikphilosophie. Deren Kernbeobachtung besteht in der Kluft zwischen dem, was wir als moderne Menschen herstellen, und dem, was wir uns vorstellen können: Die Macht unserer Gerätschaften übersteigt unsere Fantasie in solchem Maße, dass wir uns ihrer oft desaströsen Auswirkungen nicht mehr wirklich gewahr werden, geschweige denn, sie emotional fassen können:
„Wenn man eine Bombe aus ungeheurer Höhe wirft, sieht die Wirklichkeit gar nicht mehr wie die Wirklichkeit aus, sondern wie eine Puppenwelt. Das werden wir alle ja schon beim Fliegen beobachtet haben, wenn wir herunterblickten und eine Stadt sahen – die Stadt war keine wirkliche Stadt, und Sie hätten sicher auch keine Hemmung gehabt eine Bombe zu werfen, weil es keine Bombe auf einer wirklichen Stadt gewesen wäre, sondern auf einer imaginären Stadt.“
Später folgert Anders daraus, „daß Unmoralität oder Schuld heute nicht in Sinnlichkeit oder in Untreue oder Unehrlichkeit oder Sittenlosigkeit, noch nicht einmal in Ausbeutung besteht, sondern in Phantasielosigkeit. Und daß, umgekehrt, das erste heutige Postulat lautet: Erweitere deine Vorstellungskraft, damit du weißt, was du tust.“
Der Schriftsteller Günther Anders, aufgenommen Ende der 50er-Jahre.
Günther Anders Ende der 50er-Jahre.© picture alliance / dpa
In der ersten Stunde dieser Langen Nacht stellen wir Günther Anders Technikphilosophie genauer vor. In der zweiten Stunde hören wir ihn selbst von seinem bewegten Leben erzählen: Von seiner Arbeit als Journalist in den 1930er-Jahren, von der Flucht aus Nazi-Deutschland, von seinem Exil in Paris und den USA. Außerdem erzählen Menschen, die ihn gekannt haben, wie der Philosoph Konrad Paul Liessmann oder der Publizist Mathias Greffrath, von ihren Erinnerungen an Anders. Und wir schauen kritisch auf seinen berühmten Briefwechsel mit dem amerikanischen Piloten Claude Eatherly, der am Bombenabwurf auf Hiroshima beteiligt gewesen war.

Das vollständige Manuskript dieser Langen Nacht finden Sie hier.

In der dritten Stunde folgen wir Anders nach Hiroshima selbst und erinnern an sein Engagement in der Friedensbewegung – außerdem begegnen wir der Ärztin Barbara Hövener, die seit 40 Jahren, von Anders' Denken inspiriert, in der Anti-Atomwaffenbewegung aktiv ist; und wir erleben, wie Anders schließlich in der Rolle des biblischen Noah zum verzweifelten Komödianten wird.

Eine "Höllenphilosophie"

Die Art und Weise, wie Anders über die atomare Bedrohung nachdenkt, hat auch mit seiner eigenen Biografie zu tun – denn er selbst hat einiges zuvor Unvorstellbares, Ungeheuerliches erlebt. Er selbst spricht neben Hiroshima von drei weiteren „Zäsuren“ in seinem Leben und Denken: der Erste Weltkrieg, Hitlers Machtantritt und die Einrichtung der Konzentrationslager – „also die Nachricht, daß der Mensch des Zeitalters der Massenindustrie nun auch Leichen in Millionen industriell herstellte – kurz: Auschwitz“. Wohl auch deshalb sagt Anders über sich selbst:

„Mein ganzes denkerisches Leben besteht ja nur aus der Interpretation von Höllen – es ist ja eine Höllenphilosophie.“

Geboren wird Anders 1902 in Breslau, als Kind deutsch-jüdischer Eltern: dem Psychologen William Stern und der Psychologin Clara Stern. In Freiburg und Marburg studiert Günther Philosophie bei Ernst Cassirer, Martin Heidegger und Edmund Husserl. Während des Studiums lernt er seine erste Frau kennen: Hannah Arendt – die Ehe hält jedoch nicht lange. Nach der Machtübernahme der Nazis 1933 flieht Günther Anders zunächst nach Paris - und drei Jahre später in die Vereinigten Staaten, wo er unter anderem Vorlesungen über die Philosophie der Kunst hält und sich mit dem Denken Heideggers auseinandersetzt. 1950 kehrt er nach Europa zurück: Gemeinsam mit seiner zweiten Ehefrau, der Schriftstellerin Elisabeth Freundlich zieht er nach Wien.
1956, elf Jahre nach dem Bombenabwurf über Hiroshima, veröffentlicht Günther Anders den ersten Band seines Hauptwerkes: „Die Antiquiertheit des Menschen – über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution.“ Es ist der erste Entwurf seiner Technikphilosophie. Darin beginnt Anders, die Segnungen des technischen Fortschritts infrage zu stellen – und findet kompromisslose Antworten. Etwa beleuchtet er das Verhältnis zwischen dem Menschen und seinen Geräten – und kommt zu dem Schluss, dass der Mensch vom Beherrscher zum Diener seiner Apparate geworden ist.

Der Mensch als Verlängerung der Maschine

Diesen Gedanken führt er später in einem separaten Text zur Raumfahrt fort, in dem er angesichts des in die Mondrakete „einmontierten Menschen“ formuliert:

„Während bis vor kurzem das Instrument als die „Verlängerung“ des Menschen gegolten hatte, und diese Betrachtung rechtmäßig gewesen war, ist nunmehr der Mensch zum Stück bzw. zur Verlängerung des Instruments geworden.“

Seit der Industrialisierung leben wir Anders zufolge in einem Zeitalter, in dem die Technologie, unsere Produkte, Geräte und Maschinen immer perfekter werden. Anders zufolge löst diese zunehmende technische Optimierung in uns Menschen eine Scham aus – eine „prometheische Scham“ – „die Tatsache, daß wir uns unseren Produkten unterlegen fühlen, obwohl wir sie produzieren“, wie es Anders selbst formuliert.
Bernhard Lassahn, Herausgeber des Günther-Anders-Lesebuchs, ergänzt: „Er hat es fast als zwangsläufig gesehen, dass diese Technik uns auffrisst, dass die uns überholt, dass die technischen Möglichkeiten uns mehr bieten als wir unter Kontrolle haben.“

Ausgewählte Veröffentlichungen von Günther Anders:

  • 1956: Die Antiquiertheit des Menschen. Band I: über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution
  • 1959: Der Mann auf der Brücke. Tagebuch aus Hiroshima und Nagasaki
  • 1961: Off limits für das Gewissen. Der Briefwechsel zwischen dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly und Günther Anders (Herausgegeben von Robert Jungk)
  • 1968: Der Blick vom Turm. Fabeln
  • 1970: Der Blick vom Mond. Reflexionen über Weltraumflüge
  • 1972: Endzeit und Zeitenende. Gedanken über die atomare Situation
  • 1980: Die Antiquiertheit des Menschen. Band II: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution

Ausgehend von seinem Nachdenken über die Atombombe, fragt Anders nach den Implikationen moderner Technologie überhaupt: Was ist die grundlegende Idee der Technik? Wohin treibt sie uns? Was ist ihre letzte Konsequenz? 1972 schreibt Anders in seinem Buch über die „atomare Situation“:
„Der den heutigen Maschinen eingebaute Trend, ohne den keine Maschine eine Maschine wäre, zielt darauf ab, ein Höchstmaß an Effekt und Machtkonzentration mit einem Mindestaufwand an menschlicher Kraftinvestierung zustandezubringen. – Dies ist die Idee der Technik. (…) Nichts wäre nämlich kurzsichtiger zu glauben, als daß die Möglichkeit unserer Liquidierung nur ein zufälliges Nebenprodukt einiger spezieller Apparate, z.B. der Atomwaffen, sei. Vielmehr ist die Möglichkeit unserer Liquidierung das Prinzip, das wir allen unseren Apparaten mitgeben. Denn worauf wir abzielen, ist ja stets etwas zu erzeugen, was unsere Gegenwart und Hilfe entbehren und ohne uns klaglos funktionieren könnte – und das heißt ja nichts anderes als Geräte, durch deren Funktionieren wir uns überflüssig machen, (…) wir uns ‚liquidieren‘. (…) Was zählt ist die Tendenz. Und deren Parole heißt eben: Ohne uns.“

Per Knopfdruck der Verantwortung entledigt

Eine Beobachtung, die nicht nur angesichts der Fortschritte maschinellen Lernens heute eher noch an Relevanz gewonnen hat. Allerdings reagieren wir darauf mit einem ähnlichen Achselzucken wie auf die atomare Bedrohung – oder sogar mit Begeisterung, wie der Philosoph und Anders-Kenner Konrad Paul Liessmann erkennt: „Was bei ihm noch zu einer Protesthaltung geführt hat, das haben wir ins Positive gewendet und sagen: Es ist gut so, dass die Maschinen mächtiger sind als wir selber. Es ist gut so, dass wir Verantwortung an Algorithmen delegieren können. Es entlastet uns. Und wir müssen nicht mehr für das, was wir tun, verantwortlich sein, wenn die Entscheidungen ohnehin von anonymen automatischen Apparaten getroffen worden sind.“

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Im Buch „Die atomare Situation“ vertieft Anders auch sein Nachdenken über die „Diskrepanz zwischen dem, was wir herstellen und was wir vorstellen können“. Indem wir immer mehr Dinge durch einen simplen „Knopfdruck“ auslösen können, würden wir immer weniger gewahr, dass wir dabei tatsächlich etwas tun, weil es so wenig Mühe verursacht:
„Wenn wir aber nicht mehr wissen, daß wir etwas tun, dann können wir eben das Entsetzlichste tun. Und die Regel, die ich als ‚Harmlosigkeitsgesetz‘ formuliert habe, die findet hier ihre Anwendung: Je größer der Effekt, desto kleiner die für dessen Verursachung erforderliche Bosheit. (…) Wir leben im Massenzeitalter der sauberen Hände, die Inflation von Gutwilligen ist unabsehbar. In einer Sintflut von Unschuld werden wir versaufen.“

Aus der Distanz ertragen wir die grauenhaftesten Dinge

Die technologische Entwicklung eröffnet eine Distanz zwischen unserem Handeln und seinen Konsequenzen, die es uns erlaubt, diese Konsequenzen zu verdrängen. Darin liegt sicher auch eine willkommene Entlastung. Etwas in dieser Art beschreibt Günther Anders bemerkenswerterweise bereits 1932 – lange vor der Atombombe – in seiner Fabel „Der Blick vom Turm“, die die Essenz seiner späteren Theorien zu enthalten scheint:

„Als Frau Glü von dem höchsten Aussichtsturme aus in die Tiefe hinabblickte, da tauchte unten auf der Straße, einem winzigen Spielzeug gleich, aber an der Farbe seines Mantels unzweideutig erkennbar, ihr Sohn auf; und in der nächsten Sekunde war dieses Spielzeug von einem gleichfalls spielzeugartigen Lastwagen überfahren und ausgelöscht – aber das Ganze war doch nur eben die Sache eines unwirklich kurzen Augenblickes gewesen, und was da stattgefunden hatte, das hatte doch nur zwischen Spielzeugen stattgefunden. ‚Ich geh nicht hinunter!‘ schrie sie, sich dagegen sträubend, die Stufen hinabgeleitet zu werden, ‚ich geh nicht hinunter! Unten wäre ich verzweifelt!‘“

Kämpfen, egal wie machtlos wir sind

Konrad Paul Liessmann sieht darin eine Bedeutung, die weit über unser Verhältnis zur „Vernichtungstechnologie“ hinausgeht: „‚Der Blick vom Turm’ ist eine Fabel, die einfach sagt: Aus einer bestimmten Distanz sind noch die grauenhaftesten Dinge erträglich. Oder umgekehrt: Wenn wir etwas Grauenhaftes nicht wahrnehmen wollen, können wir uns auf eine Distanz dazu begeben. So lange wir uns suggerieren können, wir haben es nur mit Bildern des Unheils zu tun, können wir uns einigermaßen beruhigen. Unmittelbar mit dem Unheil konfrontiert, würden wir – wie die Fabel endet – verzweifelt sein.“
Günther Anders hat sich für die Verzweiflung entschieden – was ihn aber nie davon abgehalten hat, sich zu engagieren, wie Liessmann weiß: „Es gibt diesen berühmten Satz von Günther Anders: ‚Wenn ich verzweifelt bin, was geht es mich an – tun wir so, als wären wir es nicht.‘ Das war die Hauptforderung: Auch, wenn wir einsehen, wie machtlos wir sind, wir müssen trotzdem kämpfen.“
Und das hat Anders getan, bis zuletzt. Im November 1992, wenige Wochen vor seinem Tod, besucht Liessmann Anders im Krankenhaus: „Nach einem Unfall ist er zum Pflegefall geworden, und ich habe noch ein bisschen sprechen können mit ihm. Und er hat auch damals, obwohl er sich kaum noch bewegen konnte, geschrieben. Er hat geschrieben, wirklich bis zuletzt!“

Produktion dieser Langen Nacht:
Autor und Regie: Lou Brouwers; Ton: Michael Morawietz, Oliver Dannert; Sprecherinnen und Sprecher: Bernt Hahn, Ursula Illert, David Vormweg, Claudia Mischke; Redaktion: Dr. Monika Künzel und Constantin Hühn; Webdarstellung: Constantin Hühn.

Zum Weiterhören: Am 16.07. sendet BR 2 das Hörspiel "Am Ende des Weges" von Lou Brouwers, nach den Tagebüchern von Günther Anders.

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