Philippe Jaccottet: "Sonnenflecken, Schattenflecken"

Loblied auf die Ackerwinde

Eine Ackerwinde (Convolvulus arvensis) ist aufgeblühlt und zeigt ihren Blütenstempel. Sie wird im Volksmund auch "Mariengläschen" genannt, weil man aus der offenen Blüte trinken kann.
Jaccottet feiert die kleinsten Blumen auf Straßenböschungen wie die Ackerwinde. © picture alliance / dpa / Maximilian Schönherr
Von Helmut Böttiger · 05.08.2015
Der Schweizer Dichter Philippe Jaccottet, der auf Französisch schreibt, wird seit Langem als Nobelpreiskandidat gehandelt. Mit dem Band "Sonnenflecken, Schattenflecken" lässt sich seine poetische Weltsicht begreifen. Darin feiert er auch die Blumen am Straßenrand.
Der heute 90-jährige Philippe Jaccottet ist ein Dichter, der schon seit Jahrzehnten als Nobelpreiskandidat gehandelt wird. Abseits der großen rhetorischen und politischen Pfade vertritt er auf einzigartige, sehr persönliche und wiedererkennbare Weise sein poetisches Ideal. Es handelt sich um eine "Ästhetik des Verschwindens", wie sie in der zeitgenössischen französischen Kritik immer wieder bezeichnet wird, um Aussparungen sowie um den Verzicht auf jegliche Ausschmückung und allzu prunkvoll auftrumpfende Worte.
Einfachheit als Prinzip
"Einfachheit" ist eine Losung, die für Jaccottet das Äußerste an Überraschungen bereithält, und er findet die Einfachheit in erster Linie in der Wahrnehmung der südfranzösischen Landschaft, in der er, der aus der französischen Schweiz stammt, seit den fünfziger Jahren zu Hause ist.
Vor kurzem hat er für den kleinen Pariser Verlag seines Sohnes alte Aufzeichungen aus 30 Schulheften gesichtet, in denen er seit 1952 Notizen und Tagebucheinträge festgehalten hat. Daraus sind bereits drei zentrale Aufzeichnungsbücher entstanden. Nun hat er einige damals liegengebliebene Stücke zu einem neuen Buch zusammengefasst – und es ist kein Klischee, wenn man sagt: bei diesem Autor hat jede geschriebene Zeile ihre besondere Bedeutung.
Gedichte sind bei Jaccottet immer in einem fließenden Übergang zu poetischen Reflexionen, Kommentaren und autobiografischen Aufzeichnungen zu denken, sodass der Band "Sonnenflecken, Schattenflecken" nicht bloße Gelegenheitstexte versammelt. Man kann ihn vielmehr als Einstieg ins Jaccottets unvergleichliche poetische Weltsicht begreifen. Er verführt dazu, sich weiter in dieses vielfältige Gesamtwerk zu vertiefen.
Ehre die Blumen am Straßenrand
Es gibt natürlich kleine Naturbeobachtungen ("Februarrauchwolken, fast durchsichtig"), es gibt die Feier der kleinsten, bescheidenen Blume auf Straßenböschungen, der rosa Ackerwinde etwa ("dicht über dem Erdboden blühend"). Doch direkt daneben können Analysen von Musikstücken stehen (Bach, gespielt von Glenn Gould: "da kann ich nur staunen") oder großartige Lektürezusammenfassungen (über Yves Bonnefoy: "wie Orgelklang, entstanden aus den Bergen". Der Film "Der Stand der Dinge" von Wim Wenders ("ein merkwürdiger, intelligenter Film") wird genauso zum Thema wie die kubanische Alltagskultur oder politische Äußerungen französischer Schriftsteller (im Jahr 1968: "seuchenartige Ausbreitung der Theorien").
Immer jedoch steht die Poesie im Mittelpunkt, die Suche nach den Worten, die Angemessenheit der Sprache. Es gibt sehr dichte Porträts charismatischer Dichter wie René Char ("eine Art großer Gärtner"), Francis Ponge (der sich erst mal Hosenträger und Hemd überstreift, als Jaccottet ihn besucht) oder Peter Handke (nur wenige Zeilen, aber die haben es in sich!)
Und wenn Jaccottet wieder einmal auf den Lyriker Jules Supervielle stößt und überrascht innehält, ist auch dies ein Leitmotiv seines eigenen Dichtens: "einen Zauber hervorlocken aus den alltäglichsten Worten". Dieses Buch ist sehr persönlich, mit viel Zeitatmosphäre aufgeladen, aber gleichzeitig auch eine wunderbare Einführung in das poetische Denken selbst.

Philippe Jaccottet: Sonnenflecken, Schattenflecken. Gerettete Aufzeichungen 1952-2005.
Deutsch von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz.
Carl Hanser Verlag, München 2015. 251 Seiten, 22,90 Euro

Mehr zum Thema