Philipp Ther: "Das andere Ende der Geschichte"

Nach dem Liberalismus

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Cover Philipp Ther: "Das andere Ende der Geschichte" vor Aquarell-Hintergrund
Philipp Ther bindet mehrere Essays zu einer Art zeitdiagnostischem Panorama der "Großen Transformation" nach 1989 zusammen. © Cover: Suhrkamp / Collage: Deutschlandradio
Von Hans von Trotha · 30.01.2020
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Der Historiker Philipp Ther blickt in einem Essay-Band auf die Geschichte seit 1989 – und zieht dabei einen Klassiker der marxistischen Politikwissenschaft zu Rate. Mit erhellenden Resultaten.
Oft wird beklagt, der Essay als literarische Form würde in unseren Tagen zu wenig gepflegt. Und das stimmt. In seinem Buch "Das andere Ende der Geschichte" führt der Osteuropa-Historiker Philipp Ther vor, was diese Form – weniger streng und voraussetzungsreich als wissenschaftliches Arbeiten, dabei weiter reichend und tiefer gehend als Tagesjournalismus – leisten kann, wenn einer sich ihrer zu bedienen versteht.
Ther bindet mehrere Essays zu einer Art zeitdiagnostischem Panorama der "Großen Transformation" nach 1989 zusammen: Essays über die USA, die Bundesrepublik, den "Abstieg Italiens als Menetekel Europas" sowie die Entfremdung des Westens von Russland und der Türkei.
Zusammengehalten werden diese ebenso reflektierten wie bodenständigen Analysen von der übergreifenden Fragestellung, wie es nach dem vermeintlichen "Ende der Geschichte" nach 1989 und dem damals triumphalistisch proklamierten Sieg der "liberalen Demokratie und freien Marktwirtschaft" innerhalb kurzer Zeit zu einem flächendeckenden die Demokratie bedrohenden Aufschwung des Rechtsopulismus kommen konnte. Thers knappste Version dieses Problems lautet: "vom Neoliberalismus zum Illiberalismus".

Das Pendel schwingt nach rechts

Darüber hinaus reflektiert der Autor seine Analysen, die viel Überzeugungskraft aus dem Umstand beziehen, dass er in allen analysierten Ländern gelebt und gearbeitet hat, auf der Folie eines antiquarischen Zufallsfunds: einer alten Ausgabe des Politologie-Klassikers "The Great Transformation" von Karl Polanyi aus dem Jahr 1944. Ther legt Polanyis revisionistisch-marxistische Kapitalismusanalyse wie ein Passepartout über seine Erwägungen – um festzustellen, dass das naturgemäß nicht immer genau passt, aber immer wieder zu konstruktiven Neuausleuchtungen führt.
Das gilt insbesondere für Polanyis These einer Doppel- oder Pendelbewegung (double movement) zwischen dem Prinzip des sich selbst regulierenden freien Markts und dem "sozialen Schutzbedürfnis" der Gesellschaft. "Allerdings", fasst Ther zusammen, "kann dieses polanyische Pendel, sobald es sich in Richtung Schutz bewegt, in zwei Richtungen ausschlagen: nach links mit dem Endpunkt des demokratischen Sozialismus und nach rechts zum Faschismus." Spätestens seit dem von Ther so genannten "Annus horribilis 2016" (Trump, Brexit), in Wahrheit, so Ther, aber schon seit den Neunzigern ist ziemlich klar, wohin sich dieses Pendel gerade bewegt.

Nicht Form, sondern Inhalt

Ther schärft den Blick dafür, wie man sich diesem Phänomen sinnvollerweise nähern kann, um es besser zu begreifen. So konstatiert er zu Beispiel: "Mit dem Begriff des Rechtspopulismus wird in der Politikwissenschaft häufig eine Form der Politik bezeichnet… Als Historiker mit einer Spezialisierung auf den modernen Nationalismus stechen mir jedoch umso stärker die ideologischen Inhalte in die Augen, die mir aus früheren Epochen bekannt sind." Es spricht, meint Ther, vieles dafür, den Rechtspopulismus über seine ideologische Ausrichtung zu definieren.
"Man versteht die Welt besser, wenn man 'The Great Transformation' gelesen hat", schreibt Philipp Ther. Das gilt für sein "Das andere Ende der Geschichte" auch.

Philipp Ther: "Das andere Ende der Geschichte. Über die Große Transformation"
Suhrkamp, Berlin 2019
208 Seiten, 16 Euro

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