Phantomschmerz verfeindeter Völker
22.03.2012
Die Historikerin Yfaat Weiss widmet sich in ihren Büchern der jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und der Geschichte Israels. In "Verdrängte Nachbarn" geht es um eine Kneipenschlägerei im Jahr 1959, die einen innerjüdischen Aufstand zur Folge hatte.
Geschichte wird von den Siegern geschrieben, heißt es. Noch wichtiger als das, was Sieger schreiben (lassen), ist dabei oft das Nicht-Geschriebene: das, was unter Ruinen begraben bleibt oder gar inszenierter Amnesie anheimfällt. Alles Verdrängte wirkt nach. Und das kollektive Gedächtnis ist noch nachtragender als das World Wide Web - die Erinnerung der Verlierer ist nicht per Mausklick löschbar.
Es gibt einen Ort in Israel, an dem man das studieren kann: Wadi Salib, ein Ruinenareal im unteren östlichen Haifa. Dort bricht im Juli 1959 plötzlich ein Aufstand los. Im Nu werden aus einer Kneipenstreiterei mit ein paar kaputten Flaschen Straßenschlachten. Ein Polizist hat auf den Kneipenrandalierer geschossen. Sofort sammeln sich Bewohner, Fensterscheiben werden eingeworfen, Autos angezündet, Gewerkschafts- und Parteiräume angegriffen, Polizisten mit Steinen traktiert. Aber es ist kein jüdisch-arabischer Konflikt, sondern ein innerjüdischer, der der jungen Nation schockartig klarmacht, dass sie auch massive interne Spannungen hat. Die Aufständischen sind mizrahim, arme jüdische Flüchtlinge aus orientalischen Ländern, in diesem Fall Marokko. Ihre Wut, lange aufgestaut, richtet sich gegen die ashkenasim, die europäischen Juden, die überall im Staat das Sagen haben und keineswegs frei von Vorurteilen und Klassendünkel sind.
Unter diesem bis heute weitgehend verdrängten historischen Ereignis aber liegt ein zweites, gewaltsameres: die Enteignung und Vertreibung der arabischen Einwohner der einst "gemischten Stadt". Am 21. April 1948 mittags beginnt die Hagana, die Eroberung der arabischen Viertel, am 22. April beginnt der Exodus der Araber. Von den 30.000 bis 60.000 Muslimen und Christen - die Zahlen schwanken - sind bald nur noch drei- bis sechstausend da. Manche jüdische Politiker empfinden den Exodus bestürzt als moralische Katastrophe und rufen die Araber zur Rückkehr auf.
Golda Meir, die Haifa sofort besucht, zieht angesichts der wartenden Flüchtlinge und leeren Wohnungen, in denen noch das Essen auf dem Tisch steht, eine Parallele zur Shoah: "Ich konnte nicht anders, als mir vor Augen zu führen, dass das sicher das Bild in vielen jüdischen Städtchen gewesen ist." Und weint gemeinsam mit einer alten Araberin, die gerade mit ein paar Bündeln ein entvölkertes Haus verlässt. Kurz danach nimmt die jüdische Führung die Rückkehrappelle zurück, Haifa wird jüdisch, Wadi Salib zur neuen Heimat für marokkanische Flüchtlinge.
"Verdrängte Nachbarn" ist eine ungemein lebendige Studie über eine Leerstelle, an der der Phantomschmerz zweier verfeindeter Völker sitzt. Wie eine Archäologin gräbt Yfaat Weiss in narrativen Spiralbohrungen durch die Schichten, kreist um einen innerjüdischen Aufstand und kratzt eine verdrängte ethnische Säuberung darunter frei. Das Buch kommt ohne Bilder aus, Yfaat Weiss macht allein durch ihre bildhaft konkrete, detailreiche Erzählung erfahrbar, wie sehr der interne und der externe Konflikt ineinander verschränkt und konstitutiv für die Identität beider Völker sind.
Geschichte wird von Siegern geschrieben. Ob deren Historiographie moralische Strahlkraft entfaltet, hängt davon ab, wie offen sie auch die dunklen Seiten des Sieges beschreibt. Yfaat Weiss, die jüdisch-israelische Historikerin, klopft ihre ergreifenden Fundstücke auf kulturelle, urbane, soziale Maserungen ab und zeigt, wie haarfein und verknotet die Fäden in diesem Spannungsfeld sind, das wir als "Nahostkonflikt" fürchten.
Besprochen von Pieke Biermann
Yfaat Weiss: Verdrängte Nachbarn
Wadi Salib - Haifas enteignete Erinnerung
Hamburger Edition, Hamburg 2012
286 Seiten, 25 Euro
Es gibt einen Ort in Israel, an dem man das studieren kann: Wadi Salib, ein Ruinenareal im unteren östlichen Haifa. Dort bricht im Juli 1959 plötzlich ein Aufstand los. Im Nu werden aus einer Kneipenstreiterei mit ein paar kaputten Flaschen Straßenschlachten. Ein Polizist hat auf den Kneipenrandalierer geschossen. Sofort sammeln sich Bewohner, Fensterscheiben werden eingeworfen, Autos angezündet, Gewerkschafts- und Parteiräume angegriffen, Polizisten mit Steinen traktiert. Aber es ist kein jüdisch-arabischer Konflikt, sondern ein innerjüdischer, der der jungen Nation schockartig klarmacht, dass sie auch massive interne Spannungen hat. Die Aufständischen sind mizrahim, arme jüdische Flüchtlinge aus orientalischen Ländern, in diesem Fall Marokko. Ihre Wut, lange aufgestaut, richtet sich gegen die ashkenasim, die europäischen Juden, die überall im Staat das Sagen haben und keineswegs frei von Vorurteilen und Klassendünkel sind.
Unter diesem bis heute weitgehend verdrängten historischen Ereignis aber liegt ein zweites, gewaltsameres: die Enteignung und Vertreibung der arabischen Einwohner der einst "gemischten Stadt". Am 21. April 1948 mittags beginnt die Hagana, die Eroberung der arabischen Viertel, am 22. April beginnt der Exodus der Araber. Von den 30.000 bis 60.000 Muslimen und Christen - die Zahlen schwanken - sind bald nur noch drei- bis sechstausend da. Manche jüdische Politiker empfinden den Exodus bestürzt als moralische Katastrophe und rufen die Araber zur Rückkehr auf.
Golda Meir, die Haifa sofort besucht, zieht angesichts der wartenden Flüchtlinge und leeren Wohnungen, in denen noch das Essen auf dem Tisch steht, eine Parallele zur Shoah: "Ich konnte nicht anders, als mir vor Augen zu führen, dass das sicher das Bild in vielen jüdischen Städtchen gewesen ist." Und weint gemeinsam mit einer alten Araberin, die gerade mit ein paar Bündeln ein entvölkertes Haus verlässt. Kurz danach nimmt die jüdische Führung die Rückkehrappelle zurück, Haifa wird jüdisch, Wadi Salib zur neuen Heimat für marokkanische Flüchtlinge.
"Verdrängte Nachbarn" ist eine ungemein lebendige Studie über eine Leerstelle, an der der Phantomschmerz zweier verfeindeter Völker sitzt. Wie eine Archäologin gräbt Yfaat Weiss in narrativen Spiralbohrungen durch die Schichten, kreist um einen innerjüdischen Aufstand und kratzt eine verdrängte ethnische Säuberung darunter frei. Das Buch kommt ohne Bilder aus, Yfaat Weiss macht allein durch ihre bildhaft konkrete, detailreiche Erzählung erfahrbar, wie sehr der interne und der externe Konflikt ineinander verschränkt und konstitutiv für die Identität beider Völker sind.
Geschichte wird von Siegern geschrieben. Ob deren Historiographie moralische Strahlkraft entfaltet, hängt davon ab, wie offen sie auch die dunklen Seiten des Sieges beschreibt. Yfaat Weiss, die jüdisch-israelische Historikerin, klopft ihre ergreifenden Fundstücke auf kulturelle, urbane, soziale Maserungen ab und zeigt, wie haarfein und verknotet die Fäden in diesem Spannungsfeld sind, das wir als "Nahostkonflikt" fürchten.
Besprochen von Pieke Biermann
Yfaat Weiss: Verdrängte Nachbarn
Wadi Salib - Haifas enteignete Erinnerung
Hamburger Edition, Hamburg 2012
286 Seiten, 25 Euro