Geschichte eines jüdischen Metzgersohnes

10.06.2011
Philip Roths Roman "Empörung" war ein Meisterwerk. Es ist die Geschichte eines jüdischen Metzgersohnes und College-Studenten vor dem Hintergrund von McCarthy-Ära und Korea-Krieg.
Wer kann noch all die vielen kleinen Philip-Roth-Romane der letzten Jahre unterscheiden? Nicht alle waren Meisterwerke, einer aber auf jeden Fall: "Empörung" aus dem Jahr 2009. Es ist die berührende, Sex und Tod in bester Roth-Manier engführende Geschichte eines jüdischen Metzgersohnes und College-Studenten, vor dem Hintergrund von McCarthy-Ära und Korea-Krieg. Der NDR hat unter der Regie von Norbert Schaeffer aus "Empörung" ein Hörspiel gemacht.

"Was dann geschah, gab mir noch wochenlang Rätsel auf. Und selbst als Toter, der ich bin, und zwar seit wer weiß wie lange schon, beschäftigt mich immer noch die Rekonstruktion der Sitten, die damals auf diesem Campus herrschten - und die Rekapitulation der nervösen Bemühungen, mich diesen Sitten zu entziehen, die jene Reihe von Missgeschicken herbeiführten, die zu meinem Tod im Alter von 19 Jahren führten."

Marcus Messner, hingeschlachtet in Korea im Jahr 1952, erzählt aus dem Zwischenreich der Toten. "Empörung" wirkt wie ein existentielles Lehrstück: Philip Roth zeigt, auf welch "furchtbare und unbegreifliche Weise" zufällige oder banale Entscheidungen sich verketten und "die unverhältnismäßigsten Folgen" haben können. Die rührende, aber auch lächerlich-zwanghafte Überbesorgtheit von Marcus Vater, einem jüdischen Metzger in Newark, treibt den Sohn erst hinaus in den Bible-Belt des Mittleren Westens, ans protestantische College von Winesburg:

"Nach nur einem Jahr verließ ich das Robert Treat, weil mein Vater plötzlich den Glauben verloren hatte, dass ich allein auch nur die Straße überqueren konnte. ‚Wie soll ich wissen, dass du nicht irgendwo hingehst, wo du getötet werden könntest?’ Weil die Überwachung durch meinen Vater unerträglich geworden war. Ich musste von ihm weg."

Marcus ist der wohlerzogene Sohn kleinbürgerlicher jüdischer Eltern. Zugleich ist er ein junger Mann mit Prinzipien; sehr klug, aber nicht lebensklug. Dass er auf dem Campus von Winesburg mehrfach das Zimmer und die Mitbewohner wechselt, dass er keine Lust auf Mannschaftssport und Vereinsmeierei hat, dass er sich musterschülerhaft aufs Studium konzentriert, macht ihn für die Universitätsleitung verdächtig: Mangelt es ihm etwa an sozialer Kompetenz? Das Gemeinschaftsleben auf dem Campus ist von religiösen Ritualen geprägt. Marcus aber ist nicht bereit, im "Beratungsgespräch" mit dem Dean, das zur inquisitorischen Befragung gerät, seinen an Bertrand Russell geschulten Atheismus zu verleugnen:

"Ich habe unter religiöse Präferenz gar nichts eingetragen, Sir"
"Das sehe ich selbst. Ich frage mich nur: Warum?
"Weil ich keine habe."
"Und was gibt Ihnen dann geistigen Halt? Zu wem beten Sie, wenn Sie einmal beten müssen."
"Ich muss nicht. Ich glaube nicht an Gott. Und ich halte nichts vom Beten. Ich finde Halt an dem, was wirklich ist. Beten ist für mich eine absurde Angelegenheit."
"Ach, tatsächlich? Und doch tun es so viele Millionen."
"Millionen waren auch einmal davon überzeugt, dass die Erde eine Scheibe ist, Sir."
"Ja, das stimmt."

Mit Marcus Messner, gesprochen von Patrick Güldenberg, hat Roth ein anrührendes, fragiles Bildnis der Aufklärung als junger Mann geschaffen. "Empörung" ist, gerade in solchen Dialogszenen, ein Buch der starken Rhetorik: die Figuren argumentieren geschliffen: eine Steilvorlage für die Hörbuch-Inszenierung von Norbert Schaeffer.

Das Beste, was Marcus in seinem kurzen Leben passiert, ist die Begegnung mit Olivia, die ihm erste sexuelle Freuden verschafft. Sie ist ebenso schön wie psychisch labil. Kaum 20, hat Olivia schon eine Alkoholismus-Therapie und Selbstmordversuche hinter sich. Ihr heftiges Gefühlsleben wirkt provokativ im bigott gebremsten Winesburg.

Die Angst der Eltern um den Sohn wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Mögen die Wendepunkte oft als läppische Anlässe erscheinen, "Empörung" läuft trotzdem mit der Wucht einer antiken Tragödie auf die Katastrophe zu. Durch die Beziehung mit Olivia und seine Aufsässigkeit gegen die Religion hat sich Marcus auffällig gemacht. Nun ereignet sich an einem Wintertag auf dem Campus ein Suff-Spektakel: die Jungens stürmen die Mädchenräume zum großen Höschen-Klau, was der Rektor gar nicht komisch findet. Seine Scheltrede führt schon bedrohlich das Motiv des Todes in Korea herauf:

"4000 junge Männer wie Sie, tot, verstümmelt, verwundet. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie glücklich Sie sich schätzen können, wie privilegiert Sie sind, dass Sie samstags hier sein und sich Footballspiele ansehen können - dass Sie samstags nicht erschossen werden. Und montags, dienstags, mittwochs, donnerstags, freitags und sonntags auch nicht?"

In diesem Klima der Strenge macht Marcus einen Fehler: Er hat sich für die Gänge zum Gottesdienst einen Stellvertreter gesucht. Das ist durchaus üblich unter den Studenten. Sein Fehler besteht darin, die Sache nicht zu bereuen. Deshalb muss er das College verlassen und zum Kriegseinsatz nach Korea.

Roths Empörung richtet sich gegen das überwachungsfreudige, moralisch eingeengte Amerika der Fünfzigerjahre, aber auch gegen aktuelle Tendenzen der Frömmelei. Geschickt arbeitet das Hörspiel mit kontrapunktischer Musik: mit viel Chorälen und Hallelujah. Es ist eine kluge, pointierte Inszenierung, die vor allem durch die gute Besetzung überzeugt, darunter Ulrike Grote und Wolf-Dietrich Sprenger in den Rollen der Eltern. Schade nur, dass ein so geglücktes Hörspiel nach 88 Minuten schon vorbei ist. Man hätte gern noch länger zugehört - genug Material hätte Philip Roths Meisterwerk allemal geboten.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Philip Roth: Empörung
übersetzt von Werner Schmitz
Der Hörverlag 2011, 2 CDs, 88 Minuten, 19,95 Euro