Pflegenotstand

Weltweites Betteln um die Besten

04:32 Minuten
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) spricht mit Mitgliedern einer Pflegeklasse im Heimerer Kolleg in Pristina.
Werbetour im Kosovo: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn besucht eine Pflegeklasse in Pristina. © imago images / photothek / Xander Heinl
Von Martin Hyun · 21.10.2019
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Kosovo, Mexiko, Philippinen: Fachkräfte von dort sollen den Pflegenotstand in Deutschland beheben. Martin Hyun bezweifelt, dass diese nicht neue Strategie der Anwerbung diesmal funktioniert. Der Politologe hat einen ganz persönlichen Bezug dazu.
Gesundheitsminister Spahn reist durch die Welt, um Hilfe zu holen. Gerade erst ging es nach Kosovo und Mexiko. Ziel der Tour war es Pflegefachkräfte für Deutschland anzuwerben. Es herrscht nämlich akuter Pflegenotstand - wieder mal.

Anwerbung seit 1965

Das klingt vertraut: 1971 kamen meine Mutter und viele ihrer Landsfrauen - lyrisch Lotusblüten oder gelbe Engel genannt - nach Deutschland, um als Krankenschwestern zu arbeiten. Schon 1965 hatte die Bundesregierung Personal aus den Philippinen angeworben.
Die offizielle staatliche Anwerbung wurde später systematisiert durch das "Programm zur Beschäftigung qualifizierter koreanischer Krankenschwestern und Krankenpflegehelferinnen in deutschen Krankenhäusern". Bis 1977 kamen so circa 11.000 südkoreanische Krankenschwestern ins Land. Der Kampagne ging keine Machbarkeitsstudie voraus und ihr folgte keine Evaluation, keine Qualitätskontrolle oder Verbleibsstudie was heute Standard ist. Dabei kann man aus dieser Geschichte durchaus lernen.

Integrationsprozess war dem Zufall überlassen

Als meine Eltern angeworben wurden, galt zwar ein Mindestmaß an Sprachanforderung – doch geprüft wurde es nicht wirklich. Deutsche Kultur wurde ihnen im Heimatland per Fast-Track Verfahren beigebracht. Meine Mutter gehörte zu der Generation koreanischer Krankenschwestern, die ihr Fachspezifisches Deutsch "on the Job" gelernt hat. Der inner- und außerbetriebliche Integrationsprozess war mehr oder minder dem Zufall überlassen.
Trotzdem gilt die asiatische Migration nach Deutschland, der man aufgrund der "kulturellen Ferne" anfänglich skeptisch gegenüberstand, heute als Erfolgsgeschichte! Die südkoreanischen Pflegefachkräfte von einst haben sich bewährt. Das ist allerdings weniger Ausweis eines klugen Einwanderungskonzeptes oder einer offenen Kultur, als vielmehr der Resilienz und Leidensfähigkeit der Einwanderer.

Goldgräberstimmung auf dem Pflegemarkt

Unter den rauen Bedingungen einer gewinnorientierten Pflegewirtschaft dürfte das aber noch schwieriger sein. Derzeit sprießen Vermittlungsagenturen wie Pilze aus dem Boden. Auf dem Markt herrscht Goldgräberstimmung. Man vertraut darauf, dass sich das reguliert, und nimmt Kollateralschäden in Kauf. Und die können sowohl für die Pflegenden als auch für die Gepflegten beträchtlich sein.
Was fehlt sind einheitliche und rechtlich bindende Standards – etwa Qualitätszertifikate. Die unterschiedlichen Regelungen der 16 Bundesländer zur Zuwanderung und zur Anerkennung ausländischer Abschlüsse - damit beschäftigen sich sagenhafte 400 Stellen - führen zu langen und bürokratischen Verfahren.
Das alles hat mehr mit Duldungspolitik zu tun als mit Willkommenskultur. Wer Einwanderungsland sein will, sollte anders agieren.

"War for Talents" der Industriestaaten

Als ich gemeinsam mit Verbandsvertretern und zahlreichen Vermittlungsagenten mit Gesundheitsminister Spahn in einer gesonderten Runde der "Konzertierten Aktion Pflege" saß, die über Anerkennungsverfahren, unterschiedliche Entscheidungspraktiken, Finanzierung, Preise und Visaerteilungen diskutierten, ließ mich das Gefühl nicht los, als würden wir hier über Produkte vom Supermarkt reden, die wir nur einfach über einen Barcode Scanner ziehen müssen.
Deutschland ist für Fachkräfte ohnehin nicht Zielland Nummer 1, sondern konkurriert mit attraktiven Ländern wie den USA, Kanada und Neuseeland um die Gunst der Pflegefachkräfte für ihre alternden Gesellschaften. Es herrscht ein globaler "War for Talents" der Industriestaaten.

Es geht auch um eine Kultur der Anerkennung

Dabei geht es nicht nur um rechtliche Fragen, sondern auch um eine Kultur der Anerkennung.
Als ich neulich bei einem Gesundheitskongress den Raum betrat, fragte mich der Präsident eines Pflegeverbandes ob ich der Dolmetscher sei. Das ist durchaus symptomatisch: 42 Jahre nach Anwerbung der südkoreanischen Pflegefachkräfte wird die zweite Generation Deutsch-Koreaner immer noch als Dolmetscher und nicht als Projektleiter oder Referent wahrgenommen.
42 Jahre nach Anwerbung der südkoreanischen Pflegefachkräfte sind wir zu wenig vorbereitet auf das, was viele schon aufgrund des demografischen Wandels vorhersehen konnten. 42 Jahre nach Anwerbung der südkoreanischen Krankenschwestern müssten wir als Einwanderungsland viel weiter sein. Man müsste halt aus der Geschichte lernen.

Martin Hyun wurde 1979 Krefeld geboren. Er ist Sohn koreanischer Gastarbeiter und studierte Politik sowie International Relations in den USA und Belgien. Er war der erste koreanisch-stämmige Bundesliga-Profi in der Deutschen Eishockey-Liga sowie Junioren-Nationalspieler Deutschlands. Seit 1993 ist er glücklicher deutscher Staatsbürger. Er bereitete zuletzt als technischer Direktor die Eishockey-Spiele der Olympischen Winterspiele 2018 vor. Soeben erschein sein Buch "Gebrauchsanweisung für Südkorea".

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