Petros Markaris

"Heute ist die Linke tot"

29:49 Minuten
Petros Markaris steht in einem Wiener Café
Noch geht sein Kommissar Kostas Charitos nicht in Rente: Der Schriftsteller Petros Markaris im Oktober 2021 in Wien © picture alliance / APA / Wolfgang Huber-Lang
Von Stefan Berkholz · 07.01.2022
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Seit 1993 schreibt Petros Markaris Kriminalromane mit dem schrulligen Kommissar Kostas Charitos. Er bleibt immer am Puls der Gegenwart und gilt damit als ein Seismograph der griechischen Gesellschaft. Eine Begegnung mit Petros Markaris in Athen.
Als Sohn einer Griechin und eines Armeniers kam Markaris in Istanbul zur Welt und ging dort später auf eine deutsche Schule. So kann er sich heute in drei Sprachen fließend verständigen, wobei er seine Literatur auf Griechisch verfasst. Seit 1965 lebt er in Athen, seit 2004 im Bezirk Kypseli. In dieser Zeit hat sich das Viertel ziemlich gewandelt, wie er sagt: „Gekommen sind viele Künstler, Schriftsteller, Schauspieler, Maler auch. Und dann: viele Emigranten. Und diese Migranten sind größtenteils Afrikaner. Und die meisten sind sogar französischsprachige Afrikaner.“

Am Puls der Realität

13 Fälle mit Kostas Charitos sind mittlerweile auf Deutsch veröffentlicht. Markaris schrieb erst Theaterstücke, dann Drehbücher und eine Krimiserie. So kam es zu Charitos mit seiner Familie, die nach und nach ein Eigenleben entwickelte: Charitos, der Kommissar, Adriani, seine starke Ehefrau, und Katerina, die Tochter.
„Markaris bleibt immer am Puls der Realität, arbeitet aber gleichzeitig alte Sünden und Wunden der griechischen Gesellschaft auf. Damit gelingt ihm eine einmalige Mischung“, sagt Michaela Prinzinger, die Markaris‘ Romane aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzt: „Er hat sich seit Mitte der 1990er-Jahre an vielen Themen abgearbeitet. An der Macht der Medienmogule und der Rotlichtbarone, an den Olympischen Spielen 2004, an den plötzlich erstarkten Rechtsextremisten, an der Kluft zwischen Linken und Rechten, an der Flüchtlingskrise, an der Migrationspolitik, an der Wirtschafts- und Finanzkrise, an deutsch-griechischen Lebenswelten, an türkisch-griechischen Feindbildern und zuletzt an der Pandemie.“

Seine Romane bestechen durch Hellsichtigkeit

Silvia Zanovello, Lektorin im Diogenes Verlag, erzählte auf einer Tagung, wie sie auf den ersten Fall - in einer französischen Übersetzung noch - reagierte: „Ich las mich sofort fest. Der bissige, raubeinige Ermittler, das Tempo, der Drive sowie die Atmosphäre von Athen haben mich sofort für sich eingenommen. Ich jubelte innerlich bei jedem Satz. Schon nach wenigen Seiten war ich so begeistert, dass ich unangemeldet zum Verleger Daniel Keel ins Büro stürmte und ihm sagte: Das müssen wir machen! Herr Keel hatte die Devise, wenn die Lektorin nicht schreit, dann ist es nichts. Ich habe wohl geschrien."
Markaris‘ Romane bestechen auch durch ihre Hellsichtigkeit. Drei Jahre vor der Fußball-Europameisterschaft nahm er die Korruption im Fußball aufs Korn: 2001 erschien „Nachtfalter“. 2004, im Jahr der Olympischen Spiele, kam „Live“ heraus, in dem Markaris vorhersagte, dass die Spiele für Griechenland kein Segen, sondern ein Fluch seien. Die ökonomische Bilanz fiel tatsächlich verheerend aus. Und im Jahr der Staatsschuldenkrise, 2010, erschien in Griechenland der erste Band seiner Krisen-Tetralogie, „Faule Kredite“, sein bis dahin größter Erfolg.

Der Autor als politisch-kulturelle Instanz

„Früher wurden die Fälle von Kostas Charitos als Kriminalliteratur wahrgenommen“, erzählt Marakris‘ Lektorin: „Heute werden sie hauptsächlich politisch gelesen. Hier bei uns ist Petros Markaris inzwischen die unabhängige politisch-kulturelle Instanz für den Zustand in seinem Heimatland.“
An einem Abend im November 2021 zieht Markaris bei einem Essen in seiner Stammtaverne Bilanz. Vor zwei, drei Monaten sei es ihm in Athen richtig schlecht gegangen, sagt der Autor, der am 1. Januar 85 Jahre alt geworden ist. Wegen der Hitzewelle und der Brände – ein Lockdown, allerdings nicht wegen Corona, sondern wegen der schlechten Luft. „Die Brände gingen vermutlich wieder auf Brandstiftungen zurück“, erzählt Markaris: „Wie so häufig, wie beinahe jedes Jahr. Kriminelle Energie von Bauherren und Spekulanten.“
Im September gibt sich Markaris einen Ruck und flieht förmlich aus Athen. Er nimmt eine Auszeit, fährt zu Freunden auf die Peloponnes und danach nach Leros, eine griechische Insel nah der türkischen Küste. Es war für ihn eine Überraschung zu sehen, wie viele Türken auf Leros leben oder als Sommergäste dorthin kommen.

Versöhnung ist ihm wichtig

Es gefiel ihm, wie Türken und Griechen, die sich eigentlich feindselig gesonnen sein sollten, zusammen im selben Fischrestaurant aßen. Offenbar habe das Volk, also die Türken, die Griechen, die politische Krise selbst überwunden.
Versöhnung ist ein wichtiges Stichwort für Markaris. Bis heute beispielsweise hat der blutige Bürgerkrieg in Griechenland in den Jahren 1946 bis 1949 seine Spuren im Land hinterlassen. Verbitterung, Unversöhnlichkeit, tiefe Gräben zwischen den politischen Lagern sind geblieben.
Gegen das anhaltende Misstrauen in der griechischen Bevölkerung und die negative Stimmung schuf Markaris in seinen Kriminalromanen die Freundschaft zwischen dem Kommissar Kostas Charitos und Lambros Sissis, dem Altkommunisten. Einst, unter der Junta, also in den Jahren 1967 bis 1974, war Sissis im Folterzentrum der Machthaber interniert – und Charitos war dort einer der Gefängniswärter, aber eben einer der verständnisvollen, der zivilisierten. Nach und nach ist Sissis in den 13 Kriminalromanen zum Vertrauten und Ratgeber des Kommissars geworden, wenn dieser bei seinen Ermittlungen nicht weiter weiß.

„Die Linke ist zur Systempartei mutiert“

Die Linke sei in ganz Europa zur Systempartei mutiert, sagt Markaris: „Die linken Parteien, die ich kannte, waren gegen das System. Das war der große Unterschied. Heute sind sie einfach System, sie wollen regieren. Der Sozialismus und die Linke, an die wir geglaubt haben, haben Selbstmord begangen, weil sie sich auf das Spiel der Macht eingelassen haben. Die Armen auf der ganzen Welt müssen begreifen, dass nur noch sie selbst die Bewegung sind.“     
In einem Interview vom vergangenen Sommer sagte Markaris im Magazin „Buchkultur“: „Die Finanzkrise von 2008 war für den Mittelstand in vielen Ländern ein schwerer Schlag, der durch Covid-19 und die Pandemie verstärkt wurde. Zugleich mutierten die Linksparteien zu Parteien des Systems und wollten die Regierungsgeschäfte übernehmen. Ich habe diese neue Realität während der Finanzkrise mit der griechischen Linkspartei SYRIZA erlebt. Mittlerweile sieht man aber die gleiche Entwicklung in vielen europäischen Staaten.“

Kriminelle Strukturen

Markaris ist auch mit Mitte 80 rebellisch geblieben und beleuchtet in seinen Romanen die Widersprüche, Ungerechtigkeiten und kriminellen Strukturen des Kapitalismus. Sein jüngstes Buch, „Das Lied des Geldes“, dreht sich um den Ausverkauf Griechenlands durch Glücksritter und Spekulanten. Ein Schauplatz ist diesmal das ehemalige Athener Anarchistenviertel Exarchia im Zentrum der Stadt. Markaris erzählt: „Es gab dort Theater, Kinos, viele Restaurants und viele Bars. Und die Leute verkehrten dort in diesem Viertel sehr gern. Auch im Sommer. Und dann kamen die Chinesen. Was ich über die Chinesen sage, ist wahr. Ist keine Erfindung von mir. Die haben fast drei Viertel des Viertels aufgekauft.“
Und wie schätzt Markaris die politische und wirtschaftliche Gegenwart und Zukunft Griechenlands ein? Wie immer bleibt er skeptisch und desillusioniert. Man müsse die Mentalität der Griechen begreifen, um zu verstehen, warum das Land nicht recht vorankomme: „Ich habe einmal gesagt, der Spruch von Jean-Paul Sartre: ‚Die Hölle, das sind die anderen‘ trifft auf kein Volk so zu wie auf den Griechen. Okay, die Maßnahmen der EU, die sie den Griechen aufgezwungen hat, waren eigentlich wirklich nicht nur hart, sondern unmenschlich. Ganz klar! Das waren Strafmaßnahmen.“
Im Kriminalfall „Zahltag“ von 2012, dem zweiten Band der Krisen-Tetralogie, erläutert der Serienmörder, der verschiedene Steuersünder umgebracht hat, am Ende seine Motive. Und er gibt ein Bonmot zum Besten, das ein grelles Schlaglicht auf die Zustände in Griechenland wirft:

„Der griechische Staat ist weltweit die einzige Mafia, die es geschafft hat, bankrott zu gehen. Alle anderen kriminellen Vereinigungen blühen und gedeihen.“

Petros Markaris ist auch mit 85 noch unternehmungslustig und produktiv. Der Corona-Krimi, der 14. Fall mit Kostas Charitos, ist im Dezember in Griechenland veröffentlicht worden, der Titel: „Die Bewegung der Selbstmörder“. Und nun schreibt Markaris bereits am 15. Fall. Eins ist klar: Noch geht Kommissar Kostas Charitos nicht in Rente.
(DW)
Sprecher: Hans Czypionka und der Autor
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Ton: Andreas Stoffels
Redaktion: Dorothea Westphal
Literaturhinweise:
Petros Markaris: Das Lied des Geldes. Ein Fall für Kostas Charitos. Roman. Aus dem Neugriechischen von Michaela Prinzinger. Diogenes Verlag, Zürich 2021. 311 Seiten, 24.00 Euro
Petros Markaris: Wiederholungstäter. Ein Leben zwischen Istanbul, Wien und Athen. Aus dem Neugriechischen von Michaela Prinzinger. Diogenes Verlag, Zürich 2008
Petros Markaris: Quer durch Athen. Eine Reise von Piräus nach Kifisia. Deutsch von Michaela Prinzinger. Hanser Verlag, München 2010
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