Peter Sloterdijk über Gleichheit

„Ausdehnung der Bürgerschafts-Zone“

54:23 Minuten
Sloterdijk im Roten Salon der Volksbühne. Spricht mir Simone Miller.
Im zweiten von drei Gesprächen über die Grundwerte der Französischen Revolution beklagt Peter Sloterdijk die anhaltende Ungleichheit unter den Menschen. © Anke Beims
Moderation: Armen Avanessian und Simone Miller |
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Die Französische Revolution erklärte die Bürger für gleich vor dem Gesetz. Aber gilt das wirklich für alle? Oder definiert der Westen sich als Kreis von Gleichen, die gleicher seien als der Rest der Welt? Teil zwei unserer Reihe mit Peter Sloterdijk.
Dass jeder Mensch frei und gleich an Rechten geboren werde, gehörte zu den zentralen Ideen der Französischen Revolution. Aber war dabei wirklich an alle gedacht, oder zählten zum Kreis der Gleichen am Ende nicht nur weiße europäische Männer? Und, Hand aufs Herz: Wie weit sind wir bis heute über diesen Zustand hinausgelangt? In drei Gesprächen mit dem Philosophen Peter Sloterdijk diskutieren Simone Miller von Deutschlandfunk Kultur und Armen Avanessian von der Berliner Volksbühne über die europäischen Leitbegriffe "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" und ihre Bedeutung für die Gegenwart.
Sloterdijk erinnert daran, dass schon in der ersten Phase der Revolution um 1790 gefordert wurde, dass auch die Bewohner der Kolonien Bürgerrechte erhalten sollten: "Man hat damals noch zwischen Bürgern und Sklaven unterschieden, aber immerhin, die Ausdehnung der Bürgerschafts-Zone war erkennbar." Heute sehen Europa, die USA und andere Länder der westlichen Welt sich jedoch einem "Rückschlag" ausgesetzt, "der aus ihren eigenen Proklamationen hervorgeht", so Sloterdijk: Denn die Bewohner des globalen Südens wollen sich nicht damit abfinden, dass Gleichheit nur für die Bewohner reicher Industrieländer gelten soll.

Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik

Als Intellektueller von Gewicht hat Peter Sloterdijk die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel scharf kritisiert. Die deutsche Regierung habe sich "in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben", kommentierte er Anfang 2016 in einem Interview. Was sagt Sloterdijk heute? In der zugespitzten Situation des Sommers 2015 habe Merkel "vermutlich das Richtige getan", indem sie "in einem humanen Engpass" zahlreichen Asylbewerbern die Einreise gewährte, für die nach EU-Recht eigentlich andere Staaten zuständig gewesen wären. Dennoch bekräftigt er seine Kritik an der Kanzlerin.
Sloterdijk: "Ihr Fehler begann meiner Meinung nach damit, dass sie nach dieser außerordentlichen Situation nicht klar gemacht hat, dass es sich um eine Ausnahmesituation gehandelt hat, von unwiederholbarem Charakter."

Ein liberaler Philosoph als konservativer Staatsbürger

Aber müsste nicht gerade ein Philosoph dafür eintreten, dass der universale Wert der Gleichheit für alle gilt und den Anspruch einschließt, in Europa vor Krieg und Verfolgung Schutz zu suchen? "Auch ein Philosoph ist ein Bürger", entgegnet Sloterdijk. Seine Aufgabe als öffentlicher Denker sehe er darin, "als ein Wachheitserzeuger zu fungieren und Problembewusstsein zu erweitern." Zur Debatte um Asyl und Migration habe er "als Staatsbürger" Stellung genommen. "Als solcher bin ich konservativer als in meiner Rolle als Philosoph", sagt Sloterdijk. Die philosophische Sicht auf das Thema sei ohnehin "in der gesamten liberalen Presse inkarniert".
Dem "organisierten Unrealismus" moralisch argumentierender Leitartikler hält Sloterdijk entgegen:
"Die Bundesrepublik Deutschland ist jetzt, nach den USA, das zweitoffenste Einwanderungsland der Welt geworden – und dies in gewisser Weise am Consensus Omnium vorbei. Es ist zum großen Teil eine undiskutierte Form der Öffnung hier geschehen."

Gleichheit – ein Privileg für weiße Europäer?

Peter Sloterdijk erkennt durchaus ein Dilemma darin, dass die universale Geltung von "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" längst nicht für alle Menschen durchgesetzt sei: "Wir sind in der Wellenausbreitung des Wurfes der Französischen Revolution vielleicht jetzt so weit, dass der zweite oder dritte Ring erreicht ist, aber er ist nicht allinklusiv."
Das Privileg, ihren Anspruch auf Gleichheit auch vor Gerichten einklagen zu können, genießen derzeit vielleicht knapp eine Milliarde Menschen, schätzt Sloterdijk, "sofern sie das Glück haben, in westlich geprägten Verfassungsstaaten zu leben. Fast alle anderen leben draußen vor den Toren". Allein, indem man Gleichheit ausrufe, sei das "Problem des privilegierten Lebens" nicht zu lösen.
Sloterdijk: "Ein guter Europäer ohne schlechtes Gewissen ist nicht denkbar."

Der Skandal der Sklaverei

Der Blick in die Geschichte zeige, "dass sich seit ein paar tausend Jahren die Schere der Ungleichheit unter den Menschen außerordentlich weit geöffnet hat", bemerkt Sloterdijk. Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau habe diese Ungleichheit auf die Einführung des Privateigentums zurückgeführt, indem er erklärte: Der Mensch, der als erster einen Zaun um sein Grundstück zog, sei der Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Auch Sloterdijk verortet den Ursprung der Ungleichheit in der Ackerbauzeit, aber anders als Rousseau erkennt er ihre Ursache in dem Moment, "als Menschen auf den Gedanken kamen, andere Menschen als Jagdwild zu betrachten".
Sloterdijk: "Als der Mensch selber zwischen den jagdbaren Objekten auftauchte, hat sich die Schere zwischen den Jägern und den Gejagten geöffnet. Die Gejagten werden zu Sklaven, und wir haben seit 5000 Jahren auf der Erde die Institution der Sklaverei. Offiziell wurde sie zwar abgeschafft in den letzten 200 Jahren, existiert aber nach wie vor. Das, was Hannah Arendt ‚die Freiheit, frei zu sein‘ nennt, tritt für diese Menschen nicht ein. Das ist ein anthropologischer Skandal."

Teil drei der Gesprächsreihe mit Peter Sloterdijk zum Begriff "Brüderlichkeit" hören Sie bei "Sein und Streit" am 25. November oder auf dieser Seite online.

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