Peter Reichel: "Der tragische Kanzler"

"Sachlichkeitsfanatiker" unter Scharfmachern

08:50 Minuten
Das Brandenburger Tor im Herzen Berlins, das Wahrzeichen der Stadt, aufgenommen 1920
Das Brandenburger Tor in Berlin, aufgenommen 1920; davor das Cover des Buches "Der tragische Kanzler" über den SPD-Politiker Hermann Müller. © picture-alliance / dpa; dtv
Von Paul Stänner · 10.11.2018
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Ohne die SPD hätte es die Weimarer Republik nicht gegeben. Das Buch "Der tragische Kanzler" holt Hermann Müller, einen ihrer wichtigen Protagonisten, aus der Vergessenheit zurück. Ab 1906 war Müller Berufspolitiker - in einer Zeit der ideologischen Verseuchung.
Wer war Hermann Müller? Und warum war er - wie Peter Reichel schreibt - ein tragischer Kanzler? Ist es die Person Müller, auf die sich das Wort "tragisch" bezieht, oder ist die Zeit der noch jungen deutschen Nachkriegsrepublik, in der Hermann Müller politische Ämter übernehmen musste?
"Dass die Parteien, noch geprägt vom halb absolutistischen Kaiserreich, sich vorrangig als Gegenspieler, aber nicht als Mehrheitsbeschaffer einer Regierung verstehen, ist die große Schwäche der Weimarer Demokratie."
Aber die kann man nicht Hermann Müller anlasten, sondern den Zeitumständen. Hermann Müller war als junger Mann in die SPD eingetreten. 1906 kam er als bezahlter Sekretär zum Vorstand der SPD und arbeitete 15 Jahre lang im Parteiapparat, bevor er Leitungsfunktionen, erst in seiner Partei und dann auch in der Regierung übernommen hat. Er war Sekretär, Parteiführer im Parlament, Außenminister und zweimal Reichskanzler, 1920 für drei Monate im Kabinett Müller 1, dann von 1928 bis 1930 im Kabinett Müller 2.

Ausgezeichneter Organisator und Verhandler

Herman Müller erhielt von Zeitgenossen das Prädikat "Sachlichkeitsfanatiker", was in einer Zeit, in der sich Gefühlsfanatiker aller politischen Glaubensrichtungen zu Volksvertretern und Meinungsmachern aufschwingen, bereits eine wohltuende Ausnahme war.
Volksreden zu halten, wie es sein Parteifreund Philip Scheidemann vermochte, war seine Sache nicht. Er galt als ausgezeichneter Organisator und Verhandlungsführer, der mit wechselnden, aber immer kämpferisch entschlossen Mitspielern Kompromisse erreichen konnte. Seien es die äußerst revolutionären Genossen von den Unabhängigen Sozialdemokraten, die eine sozialistische Revolution fordern, seien es die Gewerkschaften, die außerhalb regulärer Wahlen Mitsprache in der Regierung verlangten, seien es die nationalistisch konservativen Parteien, mit denen er koalieren musste.
Müller war der Mann, der in den sauren Apfel beißen musste. Die dramatische Situation 1918 hatte die deutschen Sozialdemokratie, die von abgedankten, sagen wir, geflüchteten Kräften der alten Macht die Konkursmassen des Kaiserreichs geerbt hatte, in eine neue Rolle gedrängt.
Der Versailler Friedensvertrag, der die einseitige Kriegsschuld und die unglaublich hohen Reparationen besiegelte, trägt Hermann Müllers Unterschrift auch deshalb, weil niemand sonst seinen Namen dafür hergeben wollte. Die nationalistische Rechte konnte mit der Zwangslage wuchern. Sie beschimpfte den Außenminister als "Müller-Versailles" und zählte ihn zusammen mit Ebert und Scheidemann zu den "national würdelosen Novemberverbrechern".
Denn noch immer hielt sich der autosuggestive Glaube, dass das deutsche Heer, auf dem Boden des Feindes stehend, eigentlich nicht besiegt worden war. Wie komplex damals die Stimmung war, zeigt sich daran, wie selbst der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert die heimkehrenden Soldaten empfing: "Kein Feind hat euch überwunden. Erst als die Übermacht der Gegner an Menschen und Material immer drückender wurde, haben wir den Kampf aufgegeben." Wenn also selbst der große Ebert sich nicht entschieden der Dolchstoßlegende entgegenstellte, was hätte Parteisoldat Müller tun sollen?

Wie sich gegenseitige Entgleisungen hochschaukeln

Wir lesen das Buch heute mit dem Wissen, dass die Autosuggestion von großen Gruppen oder gar ganzen Nationen ja nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Gegenwart wirkt.
Erschreckend ist, anhand der Zitate zu erfahren, mit welch wütender Rhetorik sich die Konfliktparteien im Kampf um die Meinungsführerschaft überzogen haben. Da soll die angebliche "Diktatur des Kapitalismus und Militarismus" durch die "Diktatur des Proletariats" abgelöst werden. Die Unabhängigen Sozialdemokraten verunglimpfen Einigungsbemühungen innerhalb der Sozialdemokratie als "Einigungsrummel" und drohen, dass der Wahltag der "Tag der Vergeltung" sein werde. Aus der geschichtlichen Distanz von heute wird das Grundproblem der kompromisslosen Enthemmung deutlich; ab einer gewissen Oktanzahl im rhetorischen Brennstoff wird die Explosion unvermeidbar.
Vielleicht hätten ohne Müllers Engagement die demokratischen Kräfte der Republik gar nicht so lange gegen die blutige Aggression der Extremisten von rechts und links durchgehalten. Denn unter den Republikfeinden schienen selbst die abenteuerlichsten Konstellationen denkbar, schreibt Reichel: "Verschiedentlich betont Müller in Besprechungen, (…) es bestehe durchaus die Gefahr, dass die Kommunisten und die 'Desperados' unter den rechtsstehenden Offizieren sich zusammentun, um unter dem Schlagwort des nationalen Kommunismus zu agieren."

Schon damals war die SPD zerrissen

In all Jahren ist die SPD nicht aus ihren Flügelkämpfen von Mehrheitssozialisten, linken und dann noch linkeren Fraktionen und den Gewerkschaften herausgekommen. Dabei ging es stets um die Frage, ob man die Republik stürzen und sozialistisch überwinden oder sie verteidigen soll gegen die rechten Anfeindungen.
Im Mittelpunkt dieser Debatten stand Hermann Müller, der sich nicht entscheiden konnte zwischen der Notwendigkeit, die Partei zusammen zu halten oder die Republik zu unterstützen auch durch ungeliebte Koalitionen. Peter Reichel urteilt: "Dass er aber nach dem von ihm verschuldeten Desaster der ersten Großen Koalition… seine Partei zu lange von der Regierung fernhält, die Parteiräson über die der Republik stellt und damit zu ihrer Destabilisierung beiträgt, das wird man ihm wohl vorwerfen können."
1930 zerbricht die Koalition mit den bürgerlichen Parteien, die das Kabinett Müller II gebildet haben, weil Müller bei einem vergleichsweise banalen Problem der Arbeitslosenversicherung der Rückhalt der eigenen Partei fehlt. Peter Reichel urteilt: "Mit Hermann Müller tritt ein Kämpfer ab von der poltischen Bühne, ein Kämpfer für Frieden und Verständigung in Europa, ein parlamentsbesessener Sisyphos inmitten der vielen parlamentsfeindlichen Abgeordneten. (...) Jetzt haben ihn die eigenen Genossen gestürzt."
Darin liegt die Tragik seiner Person und seiner Zeit. Wenige Monate später erfolgten Neuwahlen, die die Nationalsozialisten zur zweitstärksten Fraktion machten. Die Republik erholt sich nicht wieder.

Die Lektüre setzt Vorwissen voraus

Dieses Buch wird Hermann Müller (er ist am 12.März 1931 verstorben) wohl nicht aus den Faltenwürfen der Geschichte herausholen. Peter Reichel, der bis 2007 an der Uni Hamburg die Historischen Grundlagen der Politik lehrte, hat mit Absicht keine Biographie seines Protagonisten geschrieben, sondern nur seine Zeit als Berufspolitiker geschildert. Also beginnt seine Erzählung im Jahr 1904, als der junge Redakteur zum ersten Mal mit August Bebel zusammentrifft.
Man muss als Leserin oder Leser schon über vieles in dieser Epoche gut Bescheid wissen, um Reichels Darlegungen folgen zu können. Den Begriff "Volksbeauftragter" hätte man gern erläutert gefunden. Dann wieder fehlt der Name zu einer politischen Funktion, so dass man blättern muss. Und die zeitlichen Abläufe sind oft so aufgelistet, dass der Leser sie selbst in eine Reihenfolge bringen muss.
Aber das macht die detailreiche Darstellung der Jahre von 1906 bis 1930 lesenswert: Zu sehen, wie die inneren Fraktionierungen und die ideologische Verseuchung einer Gesellschaft durch politische Glaubenskämpfe Fahrt aufnimmt und dann selbst von einem "Sachlichkeitsfanatiker" nicht mehr zu bremsen ist.

Peter Reichel: "Der tragische Kanzler. Hermann Müller und die SPD in der Weimarer Republik"
dtv, München 2018
464 Seiten, 29 Euro

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