Peter R. Neumann : "Der Terror ist unter uns"

Sonntagsrede eines Terrorexperten

Drei Polizisten und der Verdächtige tragen Sturmhauben. Das BIld ist aus der Ferne mit starkem Tele fotografiert, im Vordergrund sieht man unscharf die Stangen eines Metallzauns.
Ein festgenommener Terrorverdächtiger am Bundesgerichtshof in Karlsruhe - Peter R. Neumann versucht die Wurzeln des Terrorismus zu ermitteln. © picture alliance / dpa / Uli Deck
Von Martin Tschechne · 05.11.2016
Die Lektüre des Buchs "Der Terror ist unter uns" von Peter R. Neumann ist wenig erhellend. Für seine Leser stellt er die Ladenhüter der Wissenschaftsgeschichte zur Debatte. Die Erkenntnis des Politikwissenschaftlers: Es gibt nicht die eine Ursache, die den Terrorismus in der Welt erklärt.
Wer vom renommierten Terror-Experten Peter R. Neumann und seinem neuen Buch überraschende Erkenntnisse oder neue Konzepte erwartet, dürfte enttäuscht werden: Der weltbekannte Fachmann zitiert die Ladenhüter der Wissenschaftsgeschichte und gelangt zu der Erkenntnis, dass es die eine Ursache für Extremismus nicht geben.
Ein Lehrer, 30 Jahre alt, verheiratet, eine einjährige Tochter. Ein Studienabbrecher, 22, der im Schnellimbiss seines Vaters gearbeitet hat. Ein 19-jähriger Konvertit aus Jamaica und ein 18-Jähriger, der gerade mit der Schule fertig war: Unauffälliger und normaler geht es kaum. So beschreibt der Politologe Peter R. Neumann die Gruppe der Selbstmordattentäter, die sich im Juli 2005 mitten in London in die Luft sprengten, dabei 52 Menschen mit sich in den Tod rissen und mehr als 700 schwer verletzten. Bis hierher, bis zur Seite 235 seiner Studie "Der Terror ist unter uns", hat sich der Terrorexperte, Professor am Londoner King’s College und als Dauergast in Talkshows und Nachrichtensendungen nie um eine dringliche Warnung verlegen – bis hierher hat er sich zu einer Fallhöhe hinaufgearbeitet, die eigentlich nur einen Schluss zulässt: Das Phänomen Terrorismus ist nicht zu fassen, nicht zu erklären, nicht zu prognostizieren und schon gar nicht zu verhindern.
"Die Lebenswege der vier waren völlig unterschiedlich, doch sie kamen zur selben Schlussfolgerung und beteiligten sich am selben Anschlag. Allein hieran zeigt sich, dass es den einen, vermeintlich 'typischen' Terroristen nicht gibt. Für jedes scheinbar treffende 'Profil' existieren so viele Ausnahmen und so viele Nichtterroristen, die dieselben Merkmale und Eigenschaften aufweisen, dass viele Wissenschaftler – und sogar Nachrichtendienstler – die Suche nach Profilen aufgegeben haben."

Alle Terroristen in einen Topf

Nicht so der Experte: Neumann geht das Thema in genau der umfassenden Breite an, in der es jeden Abend in den Spätnachrichten präsentiert wird. Er blendet zudem weit zurück, bis zum Bürgerkrieg in Nordirland, bis zum linken Terror der Baader-Meinhof-Gruppe in den siebziger Jahren. Von dort zu Mohamed Bouyeri, der 2004 den Niederländer Theo van Gogh vom Fahrrad schoss und dann zu enthaupten versuchte. Zum rechtsradikalen Norweger Anders Breivik und zum Salafisten Nils D., der als Renegat nach Dinslaken zurückkehrte. Zu einem völlig durchgeknallten "Jihadi John", der in England Wirtschaftsinformatik studiert hatte, später in Syrien Köpfe abhackte und sich im Internet als Kriegsheld feiern ließ, zum Hassprediger Abu Hamza und zum Neonazi Uwe Böhnhardt. Alles in einem Topf, der Untertitel lautet: "Dschihadismus und Radikalisierung in Europa", was auf manche der Fälle zutrifft, bei anderen braucht es schon etwas Mühe.
Kann die Wissenschaft hier Lösungen liefern? Nunja, sagt Neumann. Ganz so einfach ist es nicht.
"Die eine Ursache oder Wurzel des Terrorismus existiert nicht. Ganz im Gegenteil: Terrorismus wurzelt in denselben politischen Konflikten, Spannungen und Frustrationen, die auch legitime und friedfertige politische Aktionen hervorbringen (…). Für jede Person, deren Frustration über Ausbeutung, Armut, Besetzung oder Unfreiheit zum Terrorismus führt, gibt es Tausende, die die gleiche negative Energie für andere Zwecke nutzen."
Das Wörtchen "negativ" stört ein bisschen. Beruhen nicht ganze Weltbilder auf dem Narrativ von Tüchtigkeit und Aufstieg? Und hat nicht gerade wieder eine Studie belegt, dass viele Migrantenkinder an den Hochschulen bessere Leistungen zeigen als die vielleicht weniger beflügelten Nachkommen derer, die schon immer da waren?

Zutreffend, aber trivial

Zu bewundern ist Neumanns Unerschrockenheit, für die verwirrende Vielfalt von Motiven, Auslösern, Einflüsterungen, Notlagen und Verirrungen trotz alledem eine Systematik zu formulieren – er spricht von fünf Bausteinen: Frust, Drang, Ideen, Leute und Gewalt – und sie durch ihre unterschiedlichen Erscheinungsformen zu konjugieren: als einsamer Wolf, als virtuelle Gegenkultur im Internet, als Modell der Selbstfindung, vielleicht gar der Emanzipation. Was sich dahinter zu erkennen gibt, ist eine Bereitschaft, ja, ein Pflichtbewusstsein der Wissenschaft, die Probleme der politischen Realität anzunehmen, an ihnen zu arbeiten und auch Lösungen anzubieten.
"Ultimatives Ziel ist es, schneller zu sein als die Extremisten: jungen Leuten zuzuhören, ihre Probleme ernst zu nehmen, Angebote zu machen und – vor allem – sie an sich zu binden, bevor die Extremisten die Gelegenheit dazu bekommen. Teil hiervon ist die Auseinandersetzung mit extremistischen Ideen und Ideologien, doch ein umfassender Präventionsansatz beschäftigt sich ebenso mit den Ursachen von Frust, Drang und Gewalt und schafft die Grundlage für positive soziale Bindungen."
Zu kritisieren ist der wissenschaftliche Gestus. Da hat der Experte also die Politologie befragt, die Soziologie und Psychologie – doch was dabei herauskommt, gleicht einer frommen Sonntagsrede. Was zu tun ist? Die Polizei besser ausstatten und die Sozialarbeiter sensibilisieren? Das mag zutreffen, ist aber trivial. Neumann stellt die Ladenhüter der Wissenschaftsgeschichte zur Debatte, von Émile Durkheim und seinem Begriff der Anomie bis zu Dollard & Miller mit ihrer Frustrations-Aggressions-Hypothese aus den 30er-Jahren, als läge darin noch Erkenntnisgewinn.
Was aber in Gefahr gerät in einer Konzeption, die im Terror nur das Andere sieht, das Fremde und Pathologische, wäre die Idee einer wechselseitigen Bedingtheit von Täter- und Opferstatus. Und damit jede Chance, den Schrecken als Mittel einer Politik zu erkennen, in der ganz andere Akteure ihre Interessen durchsetzen als eine Truppe von Verwirrten, Verhetzten und Zukurzgekommenen. Als einen dynamischen Prozess also, einen Teufelskreis, in dem jede Verängstigung neuen Zorn weckt – weil sie ihn wecken soll! – und jeder Angriff neue Angst.

Peter R. Neumann : Der Terror ist unter uns
Dschihadismus und Radikalisierung in Europa
297 Seiten, 19,90 Euro
Ullstein Verlag

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