Peter Kurzeck: "Und wo mein Haus?"

Beobachten, geschehenlassen, bewahren

06:06 Minuten
Cover von Peter Kurzecks Roman "Und wo mein Haus?". Die Schrift liegt auf gelbem Grund, darunter sind gezeichnete Häuser.
© Schöffling & Co

Peter Kurzeck

Und wo mein Haus?Schöffling, Frankfurt am Main 2022

174 Seiten

24,00 Euro

Von Jörg Magenau · 30.09.2022
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Peter Kurzecks Erzählstrom versiegt nicht. Aus seinem Nachlass ist nun ein neuer Band erschienen. Darin reflektiert er über das Phänomen der Zeit und gibt böhmischen Flüchtlingen einen Platz im kollektiven Gedächtnis.
„Keiner stirbt“ hieß ein Roman von Peter Kurzeck aus den 1980er-Jahren. „Keiner stirbt“, sagte Peter Kurzeck in der Grabrede auf einen Freund, solange „wir sie uns, genau wie uns selbst, aus der Erinnerung jeden Tag neu schaffen. Dann sehen wir, dass die Toten nicht wirklich gegangen sind. Sie sind nicht gestorben. Sie leben mit uns.“
So gesehen ist auch Peter Kurzeck im Jahr 2013 nicht gestorben, das war er 70 Jahre alt. Denn seither erscheinen immer wieder Bücher von ihm aus dem Nachlass. „Das alte Jahrhundert“, so der Titel seines auf zwölf Bände angelegten Großprojekts, ist noch lange nicht zu Ende erzählt.
Jetzt ist als achter Band dieses Zyklus – es ist der dritte aus dem Nachlass – erschienen: „Und wo mein Haus?" Eigentlich ist er eine Auskopplung aus dem auf über 1000 Seiten angewachsenen Opus magnum „Vorabend“, das Kurzeck zum Glück noch zu Lebzeiten fertigstellen konnte.
Der Erzähler – die Romanfigur Peter Kurzeck, denn wer nicht stirbt, muss Romanfigur werden – befindet sich wie gehabt im Herbst 1982 in Frankfurt-Eschersheim, wo er mit seiner Freundin Sibylle und Töchterchen Carina bei Jürgen und Pascal zu Besuch ist. Sie bilden zusammen sein Auditorium, ihnen erzählte er und erzählt nun, wie er erzählte. Denn die Zeit hat immer viele Ebenen.

Nachkriegszeit im Kurzeck-Universum

„In Gießen, sagte ich“: So fängt dieses nun vorliegende Fragment an, mit einer Zugfahrt von Frankfurt nach Gießen, einmal quer durchs hessische Kurzeck-Territorium, und quer durch die Zeiten in die unmittelbare Nachkriegszeit und „in die Zeit nach der Nachkriegszeit“.
Die Stadt liegt noch in Trümmern, zwischen denen die Menschen hausen, die Mauern sehen aus wie rasch aufgebaute Kulissen, in den Unterführungen tropft es, die Züge fahren mit Dampfloks. Und Kurzeck sammelt die Stimmen und die Einzelheiten ein und alles, was damals schon verschwand. Nichts, gar nichts darf verloren gehen. Keiner stirbt.
„Ihr wisst ja, die Zeit, sagte ich. Genau wie der Zug. Immer schneller die Zeit. Und nimmt alles mit.“ Es wäre zu einfach zu sagen, Kurzeck schreibe gegen die Zeit an. Eher schrieb er mit ihr mit und versuchte, sich selbst in der Sprache so lebendig zu halten, dass er mitfließen konnte. „Die Zeit, sagte ich. Sooft man aufblickt, sind wieder ein paar Jahre vergangen.“

Erinnerung an böhmische Flüchtlinge

Das Unstete, Unterwegige, Heimatsuchende, das ja auch der Titel „Und wo mein Haus?“ ausdrückt, hat damit zu tun, dass Kurzeck nach dem Krieg als böhmisches Flüchtlingskind ins hessische Staufenberg kam und als Fremdling dort heimisch wurde.
Die Flüchtlinge, die Displaced Persons, ihre Armut und ihre Unzugehörigkeit sind nun das Hauptthema. Im vierten, längsten Kapitel des Romanfragments berichtet Kurzeck von seiner Zeit bei der US-Army, wo er in den 1960er-Jahren in einer Abteilung für deutsche Zivilangestellte arbeitete. Eine ihrer Aufgaben bestand darin, all die „Übriggebliebenen“ aufzufangen, die in ihre meist osteuropäischen Heimatländer nicht zurückkehren wollten oder konnten. Ihnen nun ein einen Platz im kollektiven Gedächtnis zu geben, ist Kurzecks Ziel. „Jeder ist ein eigenes verlorenes Land und sein versunkenes Zeitalter.“
Allerdings ist das, was man bei ihm als erzählerische Phänomenologie des Alltags bezeichnen könnte, hier noch roh und unausgeführt. Die Absicht ist noch erkennbar; die Inventarlisten des Daseins sind noch unbearbeitet. Sie geben zusammen mit den abgedruckten Notizen und Ablaufplänen allenfalls einen Eindruck dessen, was daraus hätte werden können.
Kurzeck verfährt genauso wie die Bauern, die in einem US-Fuhrpark einen Jeep auseinandernehmen und aus all den Einzelteilen anschließend wieder neu zusammensetzen. So baut er aus lauter Einzelheiten seine erzählte Welt. Jedes Detail ist wichtig, und das Ganze würde nicht zu fahren beginnen, wenn etwas davon fehlen würde.

Emphatische Grundhaltung

„Und wo mein Haus?“ bietet einmal mehr Gelegenheit, ins Kurzeck-Universum einzutauchen. Das kann auch mit einem sehr schönen Buch über Kurzeck gelingen, das all seinen Leserinnen und Lesern empfohlen sei.
Die Basler Philosophin Angelika Krebs wirft unter dem Titel „Das Weltbild der Igel“ einen nicht nur literaturwissenschaftlichen Blick auf Kurzeck, sondern versucht, sein Werk im Sinne einer neuen Naturethik zu deuten.

Angelika Krebs in Zusammenarbeit mit Stephanie Schuster, Alexander Fischer und Jan Müller: "Das Weltbild der Igel. Naturethik einmal anders"
Schwabe Verlag, Basel 2021
240 Seiten, 28 Euro

Zentral dafür ist Kurzecks Haltung des Beobachtens, des Geschehenlassens und Bewahrens. Die Dinge, Menschen und Tiere als sie selbst sein zu lassen heißt, sie nicht zu vernutzen und für sich brauchbar machen zu müssen.
In dieser grundfreundlichen, allem Lebenden gegenüber emphatischen Grundhaltung kann Kurzeck vorbildhaft sein. Das spürt man mit jeder Zeile, die er geschrieben hat.
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