Peter Englund: "Momentum"

Kämpfen, lieben, töten

06:24 Minuten
Auf dem Cover ist das Bild einer Stadt am Fluss abgebildet. Zu sehen sind drei Brücken und die Stadt im Halbdunkel. Aus der Stadt ragen die Lichtkegel der Flakscheinwerfer empor. Darauf Buchtitel und Autorenname.
© Rowohlt Verlag

Peter Englund

Aus dem Schwedischen von Susanne Dahlmann

Momentum. November 1942 – Wie sich das Schicksal der Welt entschied Rowohlt Berlin, Berlin 2022

672 Seiten

35,00 Euro

Von Arno Orzessek  · 27.09.2022
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39 Menschen in aller Welt, mitten im Weltkrieg, vielleicht an dessen Wendepunkt. Peter Englund erzählt, wie sie im November 1942 den maßlosen Horror ausüben und erleiden, in der Schlacht und in der Küche. Ein außerordentliches und bestürzendes Werk.
Der 22. November 1942 im belagerten Leningrad. Wera Inber hört im Radio eine Sondersendung. In Stalingrad sind sowjetische Truppen zur Offensive übergangen. Die Schriftstellerin notiert in ihr Tagebuch: „Vielleicht ist es das, was man den Wendepunkt des Krieges zu nennen pflegt?“
Niemand konnte das wissen. Aber immerhin, es gab leise Anzeichen, nicht nur in Stalingrad. In Ägypten etwa sind die Achsenmächte nach der zweiten Schlacht von El Alamein auf dem Rückzug. Und im Pazifik-Krieg spürt Japan die Wirtschafts- und Feuerkraft der USA immer heftiger.
Insofern ist der angeberische Untertitel „Wie sich das Schicksal der Welt entschied“ nicht ganz falsch. Doch es geht Peter Englund kaum je um die Wendepunkt-These, es geht ihm um Menschen im Krieg – ihre Erlebnisse, ihre Gedanken, ihre Gefühle.

Angeberischer Untertitel

„Momentum“ ist ein „Geflecht aus Biografien“. Englund verfolgt einen Monat lang den Alltag von 39 Personen auf vier Kontinenten. Die üblichen Verdächtigen der großen Geschichte, die Generäle, Diktatoren, Präsidenten und Wirtschaftsbosse, sind nicht darunter. Wohl aber einige Prominente, etwa der Schriftsteller Ernst Jünger, der sich im eroberten Osteuropa umsieht; Sophie Scholl, die in München Flugblätter gegen Hitler schreibt; auch Albert Camus.

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Andere sind (bei uns) weniger bekannt: der australische Sergeant Bede Thongs, der in Neuguinea kämpft; Dorothy Robinson in Long Island, New York, die ihr Hausfrauen-Idyll verteidigt; der Jude Jechiel Rajchman, der sich in Treblinka als Zahnarzt ausgibt und den Ermordeten Goldzähne herausreißt, um nicht selbst vergast zu werden; der japanische Kapitän Hara Tameichi, der an einem Fehler verzweifelt, der viele Leben kostete; Leona Woods, die in Chicago am Manhattan-Projekt (A-Bombe) arbeitet. Wie der Krieg die Produktion des Films „Casablanca“ beeinflusst, ist ein faszinierender Nebenstrang.

Globus im Kopf

Auf 672 Seiten verdichtet „Momentum“ so viel Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, Gewalt, Grausamkeit, Qualen, Sterben, Tod und Kannibalismus, dass man das Buch nicht aus der Hand legen will, oft aber fortschleudern. Am weitesten, wenn es um Rajchmann in Treblinka geht, dem schwarzen Loch der Humanität.
"Berührend" ist ein schwaches Wort – man wird immer wieder sehr hart angefasst. Englund erzählt die existenziellen Dramen stilistisch auf dem Niveau gehobener Prosa, eng angelehnt an die Selbstzeugnisse der Personen und Bücher über sie (neue Quellen erschließt er nicht).
Die Zitate sind von erster Güte, lebensklug und lebensmüde, hoffnungsvoll und verzweifelt, konkret und philosophisch. Die Schauplätze wechseln so rasch – oft am selben Tag –, dass sich beim Lesen im Kopf ein Globus dreht: Weltkrieg!

Überleben in der Hölle

Das alles hat seinen Preis. Über die Ursprünge des Krieges, über Ideologien, politische Belange, Planungen, Ziele und Verläufe erfährt man recht wenig und nur en passant. Doch davon handeln ganze Bibliotheken.
„Momentum“ zeigt Individuen im maßstablosen Horror des Krieges. Wie sie kämpfen, lieben und töten, wie sich ihr Geist verdunkelt, ihre Seelen ausbrennen und ihre Körper zerfetzen. Und wie sie sich gegen das alles sträuben.
Der russische Partisan Nikolai Obrinba hat im deutschen Gefangenenlager einen Gedanken, der auf alle Menschen im Gefängnis des Krieges zutrifft: „Es würde nicht leicht sein, in dieser Hölle zu überleben, doch würde es hundertmal schwerer sein, ein Mensch zu bleiben.“
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