Egalitäre Pessach-Haggada

Auszug des gesamten Volkes

08:15 Minuten
Ein Tisch ist für einen traditionellen Sederabend gedeckt, auf dem Teller liegen etwa Kräter, ein Knochen oder ein Ei.
Die traditionelle Feier des Sederabends bezieht Frauen nicht mit ein und funktioniert auch für Vegetarier nicht. Eine neue Haggada soll Abhilfe schaffen. © Getty Images / Tetra Images
Von Elin Hinrichsen |
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Jüdinnen und Juden feiern zu Pessach die biblische Flucht aus Ägypten – meist mit sehr traditioneller Rollenverteilung. Geschlechtergerechtigkeit steckte lange in Kinderschuhen. Mit der neuen Haggada macht sie jetzt einen großen Schritt nach vorne.
Was ist anders in dieser Nacht als in allen anderen Nächten? Das Ma Nischtana ist die Erste der vier ganz großen Fragen zur Pessach-Nacht. Traditionell ist der jüngste Sohn einer Familie zuständig für dieses Lied, für diese Fragen – manchmal mit Unterstützung des Vaters oder älteren Bruders. Überhaupt, der Ablauf, das Essen, die Getränke des Seder-Abends, alles streng geregelt, seit mehr oder weniger 3.300 Jahren und alles aufgeschrieben in einer Vielzahl von Haggadot – das ist der Plural von Haggada - also in Büchern mit Bildern, Liedern, Texten und Handlungsanweisungen. Rabbinerin Ulrike Offenberg erklärt:
„Die Haggada, also dieses Textbuch ist wie ein Drehbuch, ein Skript, nachdem alles verläuft, aber wenn man nur die Haggada liest, hat man noch nicht wirklich einen Eindruck, wie so ein Seder-Abend abläuft.“

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Pessach ist ein Familienfest, das Jüdinnen und Juden zu Hause und nicht unbedingt in der Synagoge feiern. Und so bestimmen diejenigen, die am jeweiligen Seder-Abend mit am Tisch sitzen, wie der Abend läuft – auch dann, wenn jeder und jede eine Haggada vor der Nase liegen hat.
„In jeder Generation soll jeder Mensch sich so betrachten, als sei er selbst aus Ägypten ausgezogen“ – „als sei sie, als seien sie selbst aus Ägypten ausgezogen.“
„Das heißt, in irgendeiner Weise müssen wir selber ein Gefühl von Befreiung evozieren in uns. Es geht darum, dass jeder überlegt, was ist Knechtschaft, was ist Befreiung, was ist das für mich, bin ich schon mal aus irgendeinem Ägypten ausgezogen in meinem Leben.“

Nicht nur angesprochen, sondern einbezogen werden

Intensive Diskussionen kommen da in Gang und oftmals alte Familiengeschichten auf den Tisch – zusammen mit dem aktuellen Weltgeschehen. Auszug aus Ägypten, Befreiung von der Sklaverei, Ankunft in der Freiheit – Pessach für Pessach, für jeden und jede Jüdin. Elisa Klapheck ist Rabbinerin und Hauptautorin der egalitären Pessach-Haggada und erläutert, was an ihr besonders ist:
„Egalität bedeutet im ersten Wortsinn, so wie das im egalitären Judentum benutzt wird, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind in jeder Hinsicht. Das stellt sich aber bei der Praxis dann als etwas Größeres heraus. Es ist dann eben auch ein Menschenbild damit verbunden, was vielfältiger wird. Ich möchte zum Beispiel nicht nur als Frau angesprochen werden, ich möchte als Frau einbezogen werden.“
Warum sollte nicht auch die jüngste Tochter die vier wichtigen Fragen am Pessach-Abend stellen dürfen, angeleitet von ihrer Mutter?
Die Geschichte nicht nur erinnern, sondern sie zu vergegenwärtigen, fällt nicht leicht, wenn man zu den Personen gehört, die von den Rabbinen nicht mitbedacht wurden.

Die Orange auf dem Seder-Teller

„Wie wäre es, als lesbische oder nicht-binäre Jüd*in aus Ägypten zu fliehen? Wie würden Jüd*innen mit Behinderung oder nachhaltigkeitsorientierte Jüd*innen den Auszug planen?“
Die neue, egalitäre Pessach-Haggada stellt genau solche Fragen – in den Kommentarspalten des Buches, die neben den klassischen religiösen Texten sowie den Noten für Pessach-Lieder einen großen Platz einnehmen.
Hier finden sich auch Ideen für eine egalitäre Gestaltung des Seder-Tellers: Ein Stück gekochte rote Beete zum Beispiel als Symbol für das Blutopfer - als Ersatz für den klassischerweise benutzten Knochen, der für vegetarisch oder vegan lebende Jüdinnen und Juden als Zeichen nicht funktioniert. Oder neben Bitterkraut und anderem Gemüse sowie dem Ei auch noch eine Orange auf den Teller zu legen. Die Jüdin und Frauenrechtlerin Susannah Heschel aus den USA hatte damit angefangen.
„Sie meinte damals die Schwulen und Lesben, aber auch zum Beispiel alte Frauen, alte, alleinstehende Frauen, Witwen also, die marginalisiert sind, die in dem großen Strom der Erzählung nicht richtig vorkommen können, nicht in der Allgemeinheit des generischen männlichen Begriffs 'die Juden'.  Das ist ein Brauch geworden, der im liberalen Judentum wiedererkennbar ist, den viele praktizieren.“

Jede Generation leistet einen Beitrag zum Fest

Frauen sichtbarer machen, Mädchen in die Gestaltung des Festabends miteinbeziehen – auch in Sachen Musik macht die egalitäre Pessach-Haggada neue Vorschläge. Chasan Daniel Kempin inkludiert z.B. im Text von Wehi sche´amda auch die Mütter. „Und dies ist es“, so heißt es auf egalitär, „was unseren Vätern und unseren Müttern und uns beigestanden hat“.
Außerdem hat der Chasan zum Beispiel ein Lied für die Mirjam geschrieben, Mosches Schwester. Mit frischem Wasser trägt sie maßgeblich zum Überleben des israelitischen Volkes in der Wüste bei. Und so steht auf der egalitären Pessach-Tafel - Mirjam zu Ehren – eben auch ein Glas Wasser bereit. Erklärungen dazu finden sich wiederum in den Kommentaren.
„Das Fest hat sich weiterentwickelt. Das war mir also auch wichtig in dieser Haggada, dass Erklärungen da drin stehen, dass man sieht, dass es nicht ein Fest ist, was immer schon genauso gewesen ist. Das ist ein Fest, zu dem jede Generation ihren Beitrag geleistet hat. Und wir leisten jetzt auch unseren Beitrag mit unseren Vorstellungen.“

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Umdenken hin zu mehr Pluralität und Offenheit. Das ist das Ziel der egalitären Pessach-Haggada. Denn auch wenn die Frauenbewegung in Deutschland vor 30, 40 Jahren schon Vieles erreicht hat – es sei noch Luft nach oben.
„Das ganze Volk ist ausgezogen und befreit worden und nicht nur die Klugen und Gerechten oder nicht nur die Männer, sondern alle", sagt Rabbinerin Offenberg. "Jung und Alt und physisch stark oder mit körperlichen Einschränkungen und deshalb sollen auch alle einen Platz an der Sedertafel haben. Und insofern hilft es zu sagen, wenn so ein Buch existiert: Hier, das ist nicht nur eine spleenige Idee von mir allein, sondern das ist eigentlich im Urkern unseres Rituals verankert.“
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