Perversion des Krieges

Rezensiert von Jörg Friedrich |
In seiner D-Day-Monografie beschreibt Anthony Beevor hautnah die Befreiung Frankreichs. Er berichtet von Fallschirmspringern, die zu spät abgelassen werden und von Waffen-SS-Jugendlichen, die mit zerschmettertem Kiefer "Heil Hitler" stöhnen.
Den Weltkrieg verloren die Deutschen in fünf Schüben, vier davon sind Stalin zu verdanken, ihrem Partner von 1939. Auf gemeinsame Verabredung hatten sie den Krieg gegen Polen entfacht, das Land unter sich geteilt, doch misstrauten die zwei Führer einander und mit Grund. Der eine ergriff im Juni 1941 die Initiative, damit es der andere nicht täte und so gelangte die Wehrmacht Ende November bis in die Vororte Moskaus, die Rote Armee wiederum vier Jahre später nach Berlin. Das ist in groben Zügen die Kernroute des Desasters, es finden sich darin noch Seitenabschnitte wie der Sechswochensieg der Deutschen gegen Frankreich und England, Mitte 1940. Erst Mitte 1944 kommt die Gegenoffensive der Amerikaner zustande, die mit begrenzter Hilfe von Briten und Franzosen nach zwölf Wochen in Aachen die Reichsgrenze erreicht, nun aber sieben lange Monate bis zum Rhein benötigt, danach zügig das Ruhrgebiet einkesselt und sich mit Stalins Truppen an der Elbe trifft.

Wieder misstrauen sich die Führer des Waffenbündnisses und mit Grund. Russland hatte in zwei Schüben erst die Karpaten, dann die Weichsel erreicht und dabei der Wehrmacht das Mark entzogen. Zur selben Zeit nahmen die Westalliierten Rom und Paris. Wären sie zu Hause geblieben, hätte niemand die Russen – ab der Wolga seit zwei Jahren auf dem Vormarsch – an der Oder, vor Berlin oder vor Köln stoppen können. Sie brauchten dazu nur die 375.000 fabelhaften General Motors Trucks, die Uncle Sam spendiert hatte. Wären die Russen jedoch mit Hitler zu einem Ausgleichsfrieden gelangt, wie der Westen ständig argwöhnte, hätte dieser nie im Leben eine Landung an der französischen Atlantikküste fertiggebracht. Sie mussten das, was sie seit zwei Jahren Stalin fest versprochen hatten, nun endlich wagen, damit dieser nicht den ganzen Kontinent überrannte, mit oder ohne Hitler am Arm.

Es sei denn, der Westen hätte sich seinerseits mit den Deutschen arrangiert, ein Koalitionswechsel, den Stalin ständig argwöhnte und zwar zu Recht. Nicht lange nach Hitlers Ende fand er ja statt unter dem Label NATO. Nach einem Menschenalter führt dies gewaltigste Militärbündnis aller Zeiten soeben seinen ersten Krieg gegen eine Horde namens Taliban und verliert ihn. Vorher schon hatte die Sowjetunion gegen die gleichen Strauchritter verloren. Kurz, Kriege sind unberechenbar, Kräfteverhältnisse täuschen, Allianzen wackeln, nur hinterher weiß jeder Tintenfuchs, warum alles so kommen musste, wie es kam.

Aus 66 Jahren Abstand will es scheinen, als wäre die alliierte Landung, die massivste Militäroperation der Geschichte, für ihr strategisches Ziel, die Niederlage der Deutschen, kaum ursächlich gewesen. Sie war ihnen durch Stalin-Schub 1 und 2, dem Untergang der Heeresgruppe Mitte und der Südrusslandarmeen, bereits irreparabel angediehen. Schub 3 und 4, der Durchbruch zur Oder und nach Berlin, erledigte hartnäckige Reste.

Worum also ging es bei der Invasion? Es ging um die Inbesitznahme der Beute durch die rivalisierenden Partner. Die Aufteilung Europas war kurz zuvor ausgehandelt, doch bekommt man letztlich nur, wie Stalin sagte, worauf man seinen Stiefel setzt.

Anthony Beevor, dem Autor der jüngsten D-Day-Monografie, sind die Strategien weniger wichtig. Es ging, ihm zufolge, schlicht um die Befreiung Frankreichs vom Okkupanten. Frankreich ist für einen Burschen aus Texas doppelt so weit entfernt wie für einen Brandenburger der Hindukusch. Warum befreien die Franzosen sich nicht selber, wie die Russen? Weil sie schwächer sind, dauert es vielleicht länger, aber das schreckt ja auch die Taliban und die Palästinenser nicht von dem ab, was sie ihren Befreiungskrieg heißen.

Wenn man so will, dann ist der Texaner mit 125.000 weiteren US-Kameraden dafür gefallen, dass es sich bis 1990 in Lyon, Brüssel und Hannover weit komfortabler lebte als in Leipzig und Warschau. Ist das ein Grund, sein Leben zu opfern?

Beevors Buch handelt vom Soldatentod, denn die Substanz des Krieges ist töten und sterben für Zwecke, die man nicht durchschaut. Ist meine Sache richtig oder falsch, verloren oder zu retten, dient dieser Befehl für morgen früh überhaupt der Sache oder der Karriere des Befehlshabers? Null Ahnung, ich bin 19, sitze im Landungsboot, vorne liegt die deutsche Küstenartillerie und die Kameraden sagen, jeden zweiten von uns reißt sie in Stücke. Lebt wohl, Frau Mutter. Vive la France!

"An einigen Stellen reichte das Wasser den Männern beim Aussteigen bis über den Kopf. Viele konnten nicht schwimmen. Die meisten von denen, die in tiefes Wasser fielen, ließen vor Schreck ihre Waffen fallen und suchten sich von der Ausrüstung zu befreien. Soldaten, die zusehen mussten, wie ihre Kameraden von dem schweren Gewicht in die Tiefe gezogen wurden, gerieten in Panik. (…) Es schien unmöglich zu sein, den Streifen Strand zu überqueren, der vor den Soldaten lag. Als sie versuchten, mit ihrer schweren Ausrüstung in durchnässten Kleidern und Schuhen durchs flache Wasser zu laufen, fühlten sie sich wie in einem Albtraum, da die bleischweren, gefühllosen Beine ihren Dienst versagten. Soldaten mit besonders schwerer Last hatten kaum eine Chance. (…) ’Ich bin getroffen! Ich bin getroffen!’, ertönte es von allen Seiten."

In den ersten vier Tagen sterben bei der Invasion rund 5000 Soldaten und ebenso viele Zivilisten. Diese befinden sich einfach – rein passiv – in der Feuerzone. Schon der vorbereitenden Bombardierung des Operationsgebietes sind 15.000 Franzosen zum Opfer gefallen. Das als Nebeninformation zur bundesdeutschen Erschütterung über den Kundus-Zwischenfall. Insgesamt verloren 70.000 französische Zivilpersonen ihr Leben aus der Hand der Invasoren, dazu die Versehrten, die um jeden Besitz Gebrachten. Ihre Städte und Dörfer sahen exakt aus wie die deutschen nach den Bombennächten.

Beevor betont wiederholt, wie einsichtig die Befreiten waren, dass ihr Vierteljahr Befreiung um einiges blutiger ausfiel als ihre vier Jahre Besatzung. Ausgeklammert die Judendeportationen. Sie löschten in Frankreich, aus niedrigeren Motiven, in etwa die gleiche Anzahl von Personen aus. Die Soldatenverluste der Invasion betragen auf beiden Seiten, zu ungefähr gleichen Teilen, insgesamt eine halbe Million Mann. Die der Roten Armee, nebenbei, bis dahin das 35-fache ihrer Verbündeten.

Wie dies im einzelnen vonstatten geht, erfährt man selten so hautnah und eintönig wie in Beevors Chronik: Fallschirmspringer, die zu spät abgelassen werden, als dass die Schirme sich noch öffnen. Der Aufschlag der Körper auf dem Boden gleicht dem Geräusch von Wassermelonen, die von einem Wagen klatschen. Kapitulierende Deutsche, die ihrem Überwinder Fotos entgegenstrecken von Frau und Kind, um Gnade zu finden. So etwas lassen die aufgeputschten Nerven aber nicht zu. Peng! Waffen-SS-Jugendliche, die mit zerschmettertem Kiefer "Heil Hitler" stöhnen.

Eine bemerkenswert gehässige Sicht pflegt Beevor gegenüber den Heroen des Anti-Nazi-Kreuzzugs, den Eisenhower und Patton, Montgomery, Churchill und de Gaulle, deren Schrullen, Pfauenhaftigkeit und Neid sie hässlich von der ehrlichen Kugel trennt, die den einfachen Mann niederstreckt. Davor sind sie grundsätzlich gefeit und müssen es auch sein. Doch hat es einen schalen Geruch, wenn der alliierte Oberbefehlshaber Eisenhower in seiner jovialen Art den jungen Todgezeichneten kluge Ratschläge fürs Überleben gibt:

"The trick is to keep moving. Wenn du stehenbleibst, wenn du anfängst nachzudenken, verlierst du deinen Focus. Du wirst ein Verlustfall. Die Methode, die perfekte Methode ist 'keep moving', geh vorwärts."

Ich habe nach der Lektüre von Beevor einen deutschen Weltkriegsoffizier gefragt, wie man dies mit Männern machen kann. Er sagte: "Nur bis 27 Jahre. Danach hängen sie am Leben."

Anthony Beevor: D-Day. Die Schlacht um die Normandie
Verlag C. Bertelsmann, München/2010
Cover: "Antony Beevor: D-Day"
Cover: "Antony Beevor: D-Day"© Bertelsmann