Perspektiven der Wende

Rezensiert von Rainer Eckert |
Wolfgang Schuller gelingt es, mit bestechender Sprachgewalt Sachverhalte und Perspektiven des historischen Großereignisses "deutsche Revolution 1989" zu präsentieren.
Im Jahr 2009 sind eine ganze Reihe von Darstellungen der friedlichen Revolution von 1989/90 erschienen, sodass bei jeder Neuerscheinung zu fragen ist, was sie denn nun wirklich Neues über die Ereignisse dieser Jahre enthält. Dieser Frage muss sich auch die Arbeit Wolfgang Schullers, eines Althistorikers und gleichzeitig herausragenden DDR-Kenners, aus Konstanz am Bodensee stellen. Schnell wird dabei klar, dass es Schuller – nicht überraschenderweise – gelingt, mit bestechender Sprachgewalt Sachverhalte und Perspektiven des historischen Großereignisses "deutsche Revolution 1989" zu präsentieren.

Nach einer knappen Übersicht über die Geschichte der DDR als von Stalin begründetem kommunistischem Kunststaat bekennt sich der Autor klar zum Begriff der Revolution. Er folgt dabei dem theoretischen Ansatz, dass zur Erklärung dieses Ereignisses sein Gesamtablauf betrachtet werden muss, der in Ostdeutschland in einer für solche Volkserhebungen typischen Form ablief. Diese umfasst die noch nicht auf Umsturz zielende geistige Vorbereitung, die Schwäche der Herrschenden, den Übergang der Initiative auf die Revolutionäre und die allmähliche Festigung der Revolution.

Darauf folgen das Zurückweichen der alten Macht und die schrittweise Übernahme ihrer Positionen durch die neuen Kräfte. Typisch ist auch, dass eine Revolution mit anderen Zielen endet, als ihre ursprünglichen Vorstellungen und Erwartungen und dass sich auch das revolutionäre Führungspersonal ändert.

"Die gewaltfreie Revolution 1989/90 war eine demokratische Revolution der Freiheit und der Selbstbefreiung."

Schuller meint zu Recht, dass die ostdeutsche Revolution von ungewöhnlich vielen Menschen und letztlich von Durchschnittsbürgern getragen wurde. Kritische Intellektuelle, aber nicht die parteitreue Intelligenz der DDR, waren zwar die Anreger und Organisatoren der Revolution, die Entwicklung glitt ihnen jedoch immer mehr aus der Hand. So gab es keine charismatischen Revolutionsführer, und neben der Erlangung der Freiheit wurde besonders im Süden der DDR für das Volk die Wiedervereinigung entscheidend. Marxistisch interpretiert entwickelte sich die Idee der Freiheit hier zur materiellen Gewalt, als sie die Massen ergriff.

"Die Herbstrevolution war daher vor allem eine deutsche Revolution: Ihr Träger war das ganze Volk in allen seinen Schichten. Herausragende, die Bewegung beherrschende Leitfiguren gab es nicht."

Es ist grundsätzlich richtig, dass die ostdeutsche Revolution der deutschen Geschichte einen neuen Bezugspunkt gegeben hat und dass die Beseitigung der kommunistischen Herrschaft auch das Ende der Zweistaatlichkeit bedeutete. Für Schuller war die Herbstrevolution zwar gewaltfrei, jedoch nicht harmlos-friedlich. Dies gilt jedoch nur für die Entwicklung nach dem 9. Oktober in Leipzig, zuvor hatte die Staatsmacht mit aller Brutalität auf die Demonstranten einprügeln lassen.

Deutlich wird in der jetzt vorliegenden Darstellung, dass die Revolution in der Fläche entschieden wurde. Die frühesten revolutionären Aktionen gab es in Arnstadt und in Plauen, der Autor stellt besonders die Entwicklung in Crivitz in Mecklenburg, Magdeburg in Sachsen-Anhalt und Rudolstadt in Thüringen dar. Dabei zeichnet ihn aus, dass er bei den einzelnen Orten, denen seine Aufmerksamkeit gilt, deren Bedeutung besonders im Mittelalter betont. Dazu kommt die Würdigung der Rolle der Flüchtlinge für die Auslösung der Revolution, die Schilderung des Engagements der ostdeutschen Theater und Rock-Musiker. Richtig ist auch der Verweis auf die Bedeutung des genialen Rufes "Wir sind das Volk" und der politischen Volkspoesie, die jedoch kein alle verbindendes Revolutionslied hervorbrachte.

Wichtig für den Sieg der Revolution war auch die politische Hilflosigkeit der SED, die mit ihren Jubelfeiern zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 das Land in den offenen Aufstand trieb. Dazu kamen verächtliche Äußerungen über die Flüchtlinge, immer offenkundiger werdende Korruptionsfälle und die Unfähigkeit, die Situation adäquat zu erfassen. Die SED machte letztlich alles falsch und trieb damit die Revolution voran, stillschweigend verschwand auch die Ideologie des Marxismus-Leninismus von der Tagesordnung.

Entscheidend für den Sieg der Revolution sollte es letztlich sein, dass die Demonstrationen auch im Dezember 1989 und vor allem in Januar 1990 anhielten, als sich die SED nochmals zu konsolidieren schien, wie sich Anfang Januar bei der inszenierten Antifa-Demonstration am sowjetischen Ehrenmal im Berliner Treptower Park zeigte.

Schuller beschreibt weiterhin eindrucksvoll, wie die ostdeutsche Sozialdemokratie die SED-Herrschaft am unmittelbarsten angriff und so den Hass der Kommunisten besonders massiv auf sich zog.

"Die direkteste und daher riskanteste Opposition war die Sozialdemokratische Partei der DDR."

Richtig ist auch, dass die Demonstrierenden noch bis Mitte Oktober die Anwendung von Gewalt durch die Herrschenden nicht ausschließen konnten und dass die Revolution ihre Institutionalisierung in "Runden Tische" und Bürgerkomitees fand. Allerdings wird der Begriff "Kirche" zu undifferenziert auf Teile der evangelischen Landeskirchen angewandt, die Zahl von nahezu 1000 Mauertoten ist viel zu hoch und unter der entmachteten Nomenklatura gab es keine erhebliche Anzahl von Selbstmorden.

Bei allem Interesse für die unterschiedlichsten Orte revolutionärem Handelns kommt der Rolle Leipzigs zentrale Bedeutung zu. Hier gab es die insgesamt gewaltigsten Demonstrationen und auf ihnen wurden immer wieder zentrale Formulierungen artikuliert. Wenn auch nationalgeschichtlich der Berliner Mauerfall ein entscheidendes revolutionäres Datum ist, so ist er ohne den "Tag der Entscheidung" am 9. Oktober in Leipzig undenkbar.

"Wenn zu einer Revolution unbedingt ein Revolutionsführer gehören müsste, dann wäre es die Stadt Leipzig."

Letztlich fast Schuller das Ergebnis seiner Arbeit in der Einschätzung zusammen, dass es gegen die kommunistische Diktatur der SED eine demokratische deutsche Revolution der Freiheit und der Selbstbefreiung gegeben hat. Dem ist nur zuzustimmen und bis heute gilt, dass dies ein Sieg aller und mit der Überwindung lähmender Angst verbunden war.

Viele erinnern sich daran heute kaum noch, und die deutsche Revolution ist im allgemeinen Bewusstsein der Westdeutschen nur eine Pflichtübung. Dafür, dass sich dies im Jubiläumsjahr ändert, hat der Autor einen wichtigen Beitrag geleistet. Ohne jede Relativierung muss die Revolution zum Stolz aller Deutschen werden und ein neues Selbstbewusstseins der Freiheit begründen, das frühere Höhepunkte der deutschen Geschichte einschließen sollte.

"Ist das nicht, endlich einmal ein Ereignis, das ohne jegliche Relativierung ein neues deutsches Selbstgefühl der Freiheit begründen könnte? Das wäre eine glückhafte neue Identität aller Deutschen, die die Höhepunkte früherer deutscher Geschichte in sich einschließen könnte."


Wolfgang Schuller: Die deutsche Revolution 1989
Rowohlt 2009, 381 Seiten