Permanenter Ausnahmezustand
Thomas Hettches viel besprochener und gelobter Roman „Woraus wir gemacht sind“ zählt neben fünf weiteren Titeln zu den Kandidaten für den Deutschen Buchpreis 2006. Die Geschichte um Niklas Kalf, dessen schwangere Frau entführt worden ist, ist nun auch als Hörbuch erschienen.
„Liz geht es gut. Du kannst ganz beruhigt sein. Alles Weitere hängt allein von dir ab.
Der Schreck durchfuhr Niklas Kalf. „Was meinen sie damit? Wer sind Sie? ... wo ist Liz? Und was hängt von mir ab?“
„Keine Polizei. Verhalte dich heute Abend so, als wäre nichts geschehen. Dann findet sich alles.“
„Was soll das? Ich versteh nicht.“
„Alles hängt von dir ab“, sagte die sanfte Stimme noch einmal, dann wurde aufgelegt. „We must choose between a world of fear and a world of progress.“
Niklas Kalf hat keine Wahl. Liz, seine schwangere Frau ist entführt worden. Mehr noch: Der Held in Thomas Hettches Roman „Woraus wir gemacht sind“ hat keine Ahnung, wie er seine Frau retten kann. Er weiß weder, wo er suchen soll, noch was genau es ist, das die Entführer von ihm fordern. Nur eins ist gewiss: Wie Amerika nach dem 11. September ist auch Niklas Kalf von nun an im Ausnahmezustand.
„Es gibt nichts. Das einzig Spannende im Leben von Eugen Meerkaz war die Flucht vor den Nazis. Die Experimente, von denen diese Venus Smith sprach, kenne ich nicht. Es gibt kein Geheimnis.“
Niklas Kalf ist Biograf, erstmals in den Vereinigten Staaten anlässlich einer Lesung, ein Jahr und einen Tag nach den Anschlägen auf das World Trade Center. Sein neues Buch ist ein Auftragswerk. Die Witwe des jüdischen Emigranten Eugen Meerkaz hatte ihn darum gebeten. Die Biografie über den Physiker, der aus Europa floh, sei noch nicht fertig, so Kalf dann am Abend bei der Lesung im New Yorker Goethe-Haus. Work in progress: Einmal mehr geht der Biograf das Material durch, das ihm Elsa Meerkaz zur Verfügung gestellt hat, und stößt schließlich auf zwei Zeilen, die ihm nie besonders wichtig erschienen waren:
„Liebe verehrte Esla, stand dort. Mein herzliches Beileid zum plötzlichen Tod von Eugen. Was geschah, lässt mich verstummen. Keine Angst! Dein Hans.“
Kein Briefkopf, kein Absender. Immerhin ein Poststempel. Und so flieht Niklas Kalf nach Marfa in die texanische Prärie. In der Kleinstadt befand sich einst ein Lager für deutsche Kriegsgefangene. Dort verläuft die Hoffnungsspur buchstäblich im Sand – für lange Zeit, denn eine merkwürdige Apathie befällt den Protagonisten. Gedanken und Erinnerungen an seine Frau verblassen. Ein neues Leben scheint zu beginnen, doch dann tauchen die Handlanger des Filmproduzenten Jack Jackson wieder auf. Sie zwingen Kalf zur Weiterfahrt. Von da an treibt der Roman unaufhaltsam dem Höhepunkt entgegen. Kurz zuvor trifft der Biograf – endlich – seine Auftraggeberin, die sich lange Zeit verleugnen ließ.
„"Erzählen Sie mir jetzt endlich, was geschehen ist. Damit ich meine Frau retten kann.“
Elsa Meerkaz sah auf.
„Jackson kam zu mir, immer wieder, und bedrängte mich, ihm bestimmtes Material zu überlassen. Aber ich hatte nicht das, was er suchte.“
„Aber sie befürchteten, es könnte existieren?“
„Eugen hatte Andeutungen gemacht. Ich konnte mir denken, was Jackson wollte.“
„Und Sie wollten nicht, dass das Andenken Ihres Mannes beschmutzt würde.“
Elsa Meerkaz nickte und strich das weiße Haar mit der flachen Hand glatt.“
Der Showdown findet in einem alten Kino in Los Angeles statt. Je mehr sich der Romanheld Hollywood nähert, umso zahlreicher streut Thomas Hettche Anklänge und Verweise auf Stars und Filme in den spannungsreichen Handlungsstrang ein. Die Welt des Kinos ist nur eine der Schichten, auf denen der Plot ruht. Hinzu kommen Originalzitate aus den Medien, die immer wieder die amerikanischen Vorbereitungen des Irak-Krieges verdeutlichen. Hinzu kommt die wiederkehrende Frage, ob Amerika nicht das neue römische Imperium sei. Und schließlich ist da noch die Titelfrage, deren finale Beantwortung im Hörbuch leider nicht zu vernehmen ist. Im Roman liest man: „Woraus wir gemacht sind, dachte er, ist nichts als ein Hauch.“
Die achtstündige Hörfassung des Romans hingegen ist ein Genuss. Ulrich Matthes liest bravourös und nuancenreich, mit Feingefühl und „unverwechselbarem Timbre“. Ganze Dialoge spricht der renommierte Schauspieler in gut verständlichem Amerikanisch, etwa Zitate aus Ansprachen des Präsidenten.
Roman und Hörbuch sind eine Liebeserklärung an das verwirrte wie verwirrende Amerika. Eine kritische Reflexion, die von Zuneigung und Bewunderung zeugt.
Thomas Hettche: Woraus wir gemacht sind
Autorisierte Lesefassung, gelesen von Ulrich Matthes
Der Hörverlag: München 2006
6 CD (477 Minuten)/ 24,95 Euro
Der Schreck durchfuhr Niklas Kalf. „Was meinen sie damit? Wer sind Sie? ... wo ist Liz? Und was hängt von mir ab?“
„Keine Polizei. Verhalte dich heute Abend so, als wäre nichts geschehen. Dann findet sich alles.“
„Was soll das? Ich versteh nicht.“
„Alles hängt von dir ab“, sagte die sanfte Stimme noch einmal, dann wurde aufgelegt. „We must choose between a world of fear and a world of progress.“
Niklas Kalf hat keine Wahl. Liz, seine schwangere Frau ist entführt worden. Mehr noch: Der Held in Thomas Hettches Roman „Woraus wir gemacht sind“ hat keine Ahnung, wie er seine Frau retten kann. Er weiß weder, wo er suchen soll, noch was genau es ist, das die Entführer von ihm fordern. Nur eins ist gewiss: Wie Amerika nach dem 11. September ist auch Niklas Kalf von nun an im Ausnahmezustand.
„Es gibt nichts. Das einzig Spannende im Leben von Eugen Meerkaz war die Flucht vor den Nazis. Die Experimente, von denen diese Venus Smith sprach, kenne ich nicht. Es gibt kein Geheimnis.“
Niklas Kalf ist Biograf, erstmals in den Vereinigten Staaten anlässlich einer Lesung, ein Jahr und einen Tag nach den Anschlägen auf das World Trade Center. Sein neues Buch ist ein Auftragswerk. Die Witwe des jüdischen Emigranten Eugen Meerkaz hatte ihn darum gebeten. Die Biografie über den Physiker, der aus Europa floh, sei noch nicht fertig, so Kalf dann am Abend bei der Lesung im New Yorker Goethe-Haus. Work in progress: Einmal mehr geht der Biograf das Material durch, das ihm Elsa Meerkaz zur Verfügung gestellt hat, und stößt schließlich auf zwei Zeilen, die ihm nie besonders wichtig erschienen waren:
„Liebe verehrte Esla, stand dort. Mein herzliches Beileid zum plötzlichen Tod von Eugen. Was geschah, lässt mich verstummen. Keine Angst! Dein Hans.“
Kein Briefkopf, kein Absender. Immerhin ein Poststempel. Und so flieht Niklas Kalf nach Marfa in die texanische Prärie. In der Kleinstadt befand sich einst ein Lager für deutsche Kriegsgefangene. Dort verläuft die Hoffnungsspur buchstäblich im Sand – für lange Zeit, denn eine merkwürdige Apathie befällt den Protagonisten. Gedanken und Erinnerungen an seine Frau verblassen. Ein neues Leben scheint zu beginnen, doch dann tauchen die Handlanger des Filmproduzenten Jack Jackson wieder auf. Sie zwingen Kalf zur Weiterfahrt. Von da an treibt der Roman unaufhaltsam dem Höhepunkt entgegen. Kurz zuvor trifft der Biograf – endlich – seine Auftraggeberin, die sich lange Zeit verleugnen ließ.
„"Erzählen Sie mir jetzt endlich, was geschehen ist. Damit ich meine Frau retten kann.“
Elsa Meerkaz sah auf.
„Jackson kam zu mir, immer wieder, und bedrängte mich, ihm bestimmtes Material zu überlassen. Aber ich hatte nicht das, was er suchte.“
„Aber sie befürchteten, es könnte existieren?“
„Eugen hatte Andeutungen gemacht. Ich konnte mir denken, was Jackson wollte.“
„Und Sie wollten nicht, dass das Andenken Ihres Mannes beschmutzt würde.“
Elsa Meerkaz nickte und strich das weiße Haar mit der flachen Hand glatt.“
Der Showdown findet in einem alten Kino in Los Angeles statt. Je mehr sich der Romanheld Hollywood nähert, umso zahlreicher streut Thomas Hettche Anklänge und Verweise auf Stars und Filme in den spannungsreichen Handlungsstrang ein. Die Welt des Kinos ist nur eine der Schichten, auf denen der Plot ruht. Hinzu kommen Originalzitate aus den Medien, die immer wieder die amerikanischen Vorbereitungen des Irak-Krieges verdeutlichen. Hinzu kommt die wiederkehrende Frage, ob Amerika nicht das neue römische Imperium sei. Und schließlich ist da noch die Titelfrage, deren finale Beantwortung im Hörbuch leider nicht zu vernehmen ist. Im Roman liest man: „Woraus wir gemacht sind, dachte er, ist nichts als ein Hauch.“
Die achtstündige Hörfassung des Romans hingegen ist ein Genuss. Ulrich Matthes liest bravourös und nuancenreich, mit Feingefühl und „unverwechselbarem Timbre“. Ganze Dialoge spricht der renommierte Schauspieler in gut verständlichem Amerikanisch, etwa Zitate aus Ansprachen des Präsidenten.
Roman und Hörbuch sind eine Liebeserklärung an das verwirrte wie verwirrende Amerika. Eine kritische Reflexion, die von Zuneigung und Bewunderung zeugt.
Thomas Hettche: Woraus wir gemacht sind
Autorisierte Lesefassung, gelesen von Ulrich Matthes
Der Hörverlag: München 2006
6 CD (477 Minuten)/ 24,95 Euro