Entführung, Erpressung, Bewusstseinsveränderung
Der deutsche Schriftsteller Thomas Hettche erzählt in seinem Roman, den er mit Western- und Sciencefictionelementen auflädt, vom Publizisten Niklas Kalf. Dieser reist aus beruflichen Gründen in die USA, wo seine Frau entführt wird. Doch das scheint ihn wenig zu stören. Der Thriller, der vor den Kopf stößt, ist zwiespältig und faszinierend zugleich.
Genau ein Jahr nach den New Yorker Anschlägen reist der 40-jährige Publizist Niklas Kalf mit seiner schwangeren Frau Liz nach Manhattan, um sich dort mit einem amerikanischen Verleger zu treffen, der an Kalfs Büchern, er hat sich auf Biografien spezialisiert, Interesse zeigt. Dessen neuestes Projekt gilt Eugen Meerkaz, einem Anfang des 20. Jahrhunderts geborenen Physiker, der während des Hitler-Regimes in die USA emigrierte, Arbeit am "California Institute of Technology" fand und 1952 bei einer geheimnisvollen Explosion ums Leben kam.
Kalf schreibt im Auftrag von Meerkaz' Witwe, und nichts deutet darauf hin, dass diese Lebensgeschichte Außergewöhnliches in sich birgt, bis Liz aus dem Hotelzimmer entführt wird und sich Erpresser bei Kalf melden, die die Herausgabe von brisantem, mit den kalifornischen Experimenten der Nachkriegszeit in Zusammenhang stehenden Material verlangen.
Kalf weiß nicht, wovon die Rede ist, doch anstatt unverzüglich die Polizei einzuschalten, folgt er dem Rat seines Verlegers und wartet ab. Spätestens an dieser Stelle verschiebt sich die Perspektive des Romans, lässt sich das Handeln des Protagonisten nicht an herkömmlichen psychologischen Begriffen messen. Denn je mehr Zeit verstreicht, desto langmütiger zeigt sich Kalf mit dem Schicksal seiner Frau.
Ja, der gewaltsame Entführungsakt scheint gar nicht unwillkommen, gibt er doch Freiraum zur Selbstbesinnung. Kalf nutzt dieses Zeitvakuum, um sich selbst und seiner Generation auf die Spur zu kommen.
Ein Brief in seinen Meerkaz-Unterlagen gibt einen Hinweis auf die texanische Stadt Marfa, die abgeschieden nahe der mexikanischen Grenze liegt und, obwohl sie ihren Namen einem Dostojewskij-Roman verdankt, wenig Spektakuläres verheißt. Nicht so für Kalf: Der beginnt sich rasch für die amerikanische Lebensart und die Klarheit der amerikanischen Sichtweise zu erwärmen.
Anders als im schwächelnden Europa wird in Marfa nicht mit Bildern, mit ästhetisierten Kompensationen gehandelt, sondern mit beeindruckend schlichten Wahrheiten:
"Alles war hier an seinem Platz. Alles, schien es ihm, wurde mit seinen englischen Bezeichnungen endlich bei seinem wirklichen Namen genannt, und die Preise in Dollar gaben allem seinen tatsächlichen Wert. Die Sirenen der Polizei und die Hupen der Autos hatten den richtigen Klang und alle Lichter die ihnen zustehenden Farben."
Thomas Hettche will verstehen, was sich für seine Altersgenossen seit dem Beginn des neuen Jahrhunderts verändert hat. "Eine Drift hat uns erfasst, die alles ändert, was wir kennen", alles, damit ist die westeuropäische Scheinsicherheit gemeint, für alle Zeiten in halbwegs gefestigten Verhältnissen zu leben, und die Scheu, in moralischen Kategorien zu denken und zu handeln.
Thomas Hettche ist ein versierter Stilist, der es vor allem im Marfa-Kapitel glänzend versteht, die schleichenden Bewusstseinsveränderungen einer Figur voll "Beobachtungssucht" abzubilden. Wie er dann freilich seinen Roman im Dreieck New York – Marfa – Los Angeles ansiedelt, mit Western- und Science-Fiction-Elementen auflädt, wie er dämonische Filmproduzenten, die Kalf um ein Haar ins Jenseits befördern, auffahren lässt und, so die Realitätsverlinkung, Meerkaz zum Mitarbeiter des zum Okkultismus neigenden Raketentechnikers John "Jack" Parsons (1914 – 1952) macht, das ist viel Aufwand, um dem Erpressungsfall Plausibilität einzuhauchen.
Parsons' Wille, die "weiße Zivilisation ins All hinauszutragen", soll wissenschaftliche Erkenntnisse zu Tage gefördert haben, die auch nach fünfzig Jahren Sensationelles versprechen und einen harmlosen deutschen Publizisten zum Spielball obskurer Mächte machen, nun ja.
So ist "Woraus wir gemacht sind" ein zwiespältiger Roman, der vor den Kopf stößt und gleichzeitig fasziniert und der in keiner Weise ein Vorbild ist für den Umgang mit schwangeren Ehefrauen.
Thomas Hettche: Woraus wir gemacht sind
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006
336 Seiten, 19 Euro
Kalf schreibt im Auftrag von Meerkaz' Witwe, und nichts deutet darauf hin, dass diese Lebensgeschichte Außergewöhnliches in sich birgt, bis Liz aus dem Hotelzimmer entführt wird und sich Erpresser bei Kalf melden, die die Herausgabe von brisantem, mit den kalifornischen Experimenten der Nachkriegszeit in Zusammenhang stehenden Material verlangen.
Kalf weiß nicht, wovon die Rede ist, doch anstatt unverzüglich die Polizei einzuschalten, folgt er dem Rat seines Verlegers und wartet ab. Spätestens an dieser Stelle verschiebt sich die Perspektive des Romans, lässt sich das Handeln des Protagonisten nicht an herkömmlichen psychologischen Begriffen messen. Denn je mehr Zeit verstreicht, desto langmütiger zeigt sich Kalf mit dem Schicksal seiner Frau.
Ja, der gewaltsame Entführungsakt scheint gar nicht unwillkommen, gibt er doch Freiraum zur Selbstbesinnung. Kalf nutzt dieses Zeitvakuum, um sich selbst und seiner Generation auf die Spur zu kommen.
Ein Brief in seinen Meerkaz-Unterlagen gibt einen Hinweis auf die texanische Stadt Marfa, die abgeschieden nahe der mexikanischen Grenze liegt und, obwohl sie ihren Namen einem Dostojewskij-Roman verdankt, wenig Spektakuläres verheißt. Nicht so für Kalf: Der beginnt sich rasch für die amerikanische Lebensart und die Klarheit der amerikanischen Sichtweise zu erwärmen.
Anders als im schwächelnden Europa wird in Marfa nicht mit Bildern, mit ästhetisierten Kompensationen gehandelt, sondern mit beeindruckend schlichten Wahrheiten:
"Alles war hier an seinem Platz. Alles, schien es ihm, wurde mit seinen englischen Bezeichnungen endlich bei seinem wirklichen Namen genannt, und die Preise in Dollar gaben allem seinen tatsächlichen Wert. Die Sirenen der Polizei und die Hupen der Autos hatten den richtigen Klang und alle Lichter die ihnen zustehenden Farben."
Thomas Hettche will verstehen, was sich für seine Altersgenossen seit dem Beginn des neuen Jahrhunderts verändert hat. "Eine Drift hat uns erfasst, die alles ändert, was wir kennen", alles, damit ist die westeuropäische Scheinsicherheit gemeint, für alle Zeiten in halbwegs gefestigten Verhältnissen zu leben, und die Scheu, in moralischen Kategorien zu denken und zu handeln.
Thomas Hettche ist ein versierter Stilist, der es vor allem im Marfa-Kapitel glänzend versteht, die schleichenden Bewusstseinsveränderungen einer Figur voll "Beobachtungssucht" abzubilden. Wie er dann freilich seinen Roman im Dreieck New York – Marfa – Los Angeles ansiedelt, mit Western- und Science-Fiction-Elementen auflädt, wie er dämonische Filmproduzenten, die Kalf um ein Haar ins Jenseits befördern, auffahren lässt und, so die Realitätsverlinkung, Meerkaz zum Mitarbeiter des zum Okkultismus neigenden Raketentechnikers John "Jack" Parsons (1914 – 1952) macht, das ist viel Aufwand, um dem Erpressungsfall Plausibilität einzuhauchen.
Parsons' Wille, die "weiße Zivilisation ins All hinauszutragen", soll wissenschaftliche Erkenntnisse zu Tage gefördert haben, die auch nach fünfzig Jahren Sensationelles versprechen und einen harmlosen deutschen Publizisten zum Spielball obskurer Mächte machen, nun ja.
So ist "Woraus wir gemacht sind" ein zwiespältiger Roman, der vor den Kopf stößt und gleichzeitig fasziniert und der in keiner Weise ein Vorbild ist für den Umgang mit schwangeren Ehefrauen.
Thomas Hettche: Woraus wir gemacht sind
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006
336 Seiten, 19 Euro