Performancekünstlerin Marina Abramovic

"Ich wollte mit dem Immateriellen arbeiten"

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Porträt der Performancekünstlerin Marina Abramovic.
Marina Abramovic entschied sich früh dazu, die zweidimensionale Kunst hinter sich zu lassen. © AFP / Getty Images / Michael Loccisano
Von Rudolf Schmitz  · 23.07.2021
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Marina Abramovic gilt als Meisterin der Performance. Immer wieder sucht sie das Extreme und geht an die Grenzen ihres Körpers. Jetzt zeigt die Kunsthalle Tübingen eine Retrospektive der Künstlerin, die von sich sagt: "Ich gebe immer 150 Prozent".
Sie ist blendend gelaunt, trägt eine rotgemusterte Bluse zur schwarzen Hose, möchte aber lieber keinen Kaffee, sondern gleich zur Sache kommen, das heißt zum Motto ihrer Künstlerexistenz: "100 Prozent ist nicht genug. 150. Ich gebe immer 50 Prozent extra", sagt Marina Abramovic. "Das Publikum kann das nehmen, kann es bleiben lassen, kann darauf spucken. Das liegt nicht mehr in meiner Verantwortung."
Sie gebe alles, was sie habe, fährt sie fort. "Bei mir war noch niemand gleichgültig und das finde ich großartig. Denn Gleichgültigkeit tötet die Kunst. Und bei mir war immer alles extrem."

Gegenständliche Malerei genügte ihr nicht

Damit kamen weder ihre Eltern, ehemalige Tito-Partisanen und inzwischen ranghohe Militärs, noch ihre Kunstakademie in Zagreb klar. Denn sehr bald zeigte sich, dass es Marina Abramovic nicht genügte, sich in gegenständlicher Malerei zu üben.
Es gab diesen Moment, erzählt sie, als sie im Gras lag und die Kondensstreifen bewunderte, die von Militärflugzeugen in den Himmel gezeichnet wurden. "In dem Moment sagte ich mir: Ich will nicht malen, nicht ins Atelier gehen, um etwas Zweidimensionales zu produzieren. Ich kann Kunst aus allem machen, aus Staub, aus Feuer, Wasser, der Erde, dem Körper. Aus was auch immer."
So sei die Idee der Performance geboren worden, sagt sie und ordnet das ein: "Zu jener Zeit, in Ex-Jugoslawien, bedeutete Performance so etwas wie ein Spaziergang auf dem Mond – vor allem für eine Frau."

Beuys, Nitsch und Ulay

Durch Begegnungen mit den Künstlern aus dem Westen, Joseph Beuys und Hermann Nitsch, im Jahr 1973 begreift Marina Abramovic, dass sie nicht die einzige Verrückte ist und die Performance gerade eine große Zeit erlebt.
Mitte der 1970er-Jahre lernt sie dann in Amsterdam den deutschen Künstler Ulay kennen, von 1976 bis 1988 leben und arbeiten sie zusammen und thematisieren die männlich-weibliche Gefühlswelt und entsprechende Beziehungsmodelle in radikalen Auftritten.
"Als ich zum ersten Mal vor Publikum stand, spürte ich diese besondere Energie. Eine Künstlerin muss wissen, womit sie arbeitet. Und ich wollte mit dem Immateriellen arbeiten. Es ist ein Dialog zwischen mir und dem Publikum. Du kannst es nicht sehen. Du musst es fühlen. Meine Arbeit ist sehr emotional."
Die Kunsthalle Tübingen zeigt in Videos auf körpergroßen Projektionswänden einige dieser legendär gewordenen Aktionen: Marina Abramovic als Ziel eines Pfeils, der auf ihr Herz zielt. Sie ergreift und dehnt das Holz des Bogens, ihr Partner Ulay spannt die Sehne. Dieses Bild einer verhängnisvollen Symbiose mit Todesaroma wird die Geschlechterdebatte wohl auf ewig begleiten.

Jugoslawien-Krieg auf der Biennale

Nach ihrer Trennung im Jahr 1988, die Marina und Ulay mit einer gegenläufigen Wanderung und Abschied nehmenden Begegnung auf der Großen Chinesischen Mauer zelebrieren, beginnt die Solo-Karriere der Künstlerin.
1997 thematisiert sie im Biennale-Pavillon von Venedig den Jugoslawienkrieg, sitzt auf einem Berg von Rinderknochen, bürstet sie, beschmutzt damit ihr weißes Kleid mit Blut, singt jugoslawische Trauerlieder. Niemand, der dies sieht, ist unberührt. Für ihre Performance bekommt sie den Goldenen Löwen von Venedig.
"Ich brauchte lange, um reagieren zu können", erinnert sich die 74-Jährige jetzt. "Es war mir so nah. Ich schämte mich wegen des Krieges. Ich mag keine Gewalt, keine Aggression, kein Töten. Wie konnte ich also etwas machen, das transzendent war, das Symbolcharakter hatte, auch wenn der Krieg in Jugoslawien vorbei sein würde? Im Sinne von: Du kannst das Blut nicht von Deinen Händen waschen."

Hadern mit der westlichen Gesellschaft

Dass Marina Abramovic, die seit zwei Jahrzehnten in New York lebt, mit der westlichen Gesellschaft hadert, ist kein Geheimnis. Wir seien technologiehörig, sagt sie. Das beraube uns unserer Sinne. Intuition, erweiterte Wahrnehmung, Sensibilität für unsere Mitmenschen und für die Schöpfung – das alles bleibe auf der Strecke.
"Ich habe viel Zeit bei den Aborigines verbracht, bei den Tibetern, den Schamanen, und alles gelernt, was ich lernen konnte. Diese Kulturen haben noch das entsprechende Wissen, und wir müssen es wiederbeleben." Ihre Rolle definiert sie so: "Deshalb fühle ich mich wie eine Brücke. Ich gehe in den Osten, um zu lernen, und komme in den Westen, um zu geben."
Wie Marina Abramovic dieser Wissenstransfer gelungen ist, zeigt jetzt die Kunsthalle Tübingen als beeindruckende Reise durch ihr Leben und durch ihr Werk.

"Marina Abramovic: Jenes Selbst/Unser Selbst"
Kunsthalle Tübingen
24. Juli 2021 bis 13. Februar 2022

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