Derek Penslar: „Theodor Herzl: Staatsmann ohne Staat"

Vom Feuilletonredakteur zum Propheten einer neuen Zeit

07:08 Minuten
Das Cover zeigt eine schwarzweiße Porträtaufnahme von Theodor Herzl mit verschränkten Armen
© Wallstein Verlag

Derek Penslar

Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz

Theodor Herzl: Staatsmann ohne Staat. Eine BiographieWallstein Verlag, Göttingen 2022

256 Seiten

24,00 Euro

Von Carsten Hueck · 21.03.2022
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Um ein politischer Führer zu werden, braucht es Programm, Tatkraft und den passenden Moment. Derek Penslar zeigt in seiner Biografie des zionistischen Visionärs Theodor Herzl, wie historische Situation und persönliches Charisma zusammenkamen.
Viele Bücher sind über Theodor Herzl schon geschrieben worden, vor der Gründung des Staates Israel und danach. Mit neuen Fakten über den gebürtigen Ungarn und Wiener Journalisten, der es vermochte, eine der einflussreichsten politischen Figuren des 20. Jahrhunderts zu werden, kann auch die neue Biografie von Derek Penslar nicht aufwarten.
Doch interessant ist der Fokus, unter dem der Professor für jüdische Geschichte an der Havard Universität den Anführer der zionistischen Bewegung betrachtet. „The charismatic leader“ lautet der Untertitel des Originals, der schon darauf hinweist, worum es dem Autor geht: herauszufinden, was einen Menschen befähigt, eine Idee zu verkörpern und andere mitzureißen? Welche Umstände es ermöglichen, seine Befähigung zu entwickeln und Wirkungen hervorzurufen? Was macht einen charismatischen Führer aus?
Eine Frage, der es an Aktualität nicht fehlt - gerade dieser Tage, vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine, erleben wir auch das Phänomen, dass ein ehemaliger Schauspieler Charisma entfaltet, zum Führer einer ganzen Nation und zu einer europäischen Identifikationsfigur wird.

Kein „großer Mann“

Schon in der Einleitung seines Buches weist Derek Penslar darauf hin, dass er die Geschichtstheorie eines „großen Mannes“ meidet. Er verklärt Herzl nicht und betrachtet ihn nicht einmal als großen Denker. Seine zionistischen Schriften liest Penslar als Manifeste, „als Aufrufe zum Handeln, nicht als theoretische Diskurse“.
Das Geheimnis von Herzls Größe jedoch liegt für ihn im Zusammentreffen einer spezifischen historisch-kulturellen Situation mit Herzls starkem Willen und seinem Talent zur Selbstinszenierung.
In sieben Kapiteln auf überschaubaren 250 Seiten – ansprechend geschrieben, gut verständlich auch für diejenigen, die nicht ausgewiesene Kenner jüdischer Geschichte sind – konzentriert sich Derek Penslar auf die innere Struktur, das Selbstbild, die psychische Labilität Herzls und im weiteren auf seine Position im Rahmen der zionistischen Bewegung, sowie seine Stellung als Journalist und Autor seiner Zeit.

Ein Kind seiner Zeit

Geboren 1860, in einer Familie assimilierter Juden, war Herzl ein ehrgeiziger Bürgersohn des Fin de Siècle. Nationalist, egozentrisch, humorbegabt, romantisch, aber auch melancholisch und depressiv. Doch als Ehemann und Familienvater, als Korrespondent einer angesehenen Zeitung und später als Feuilletonredakteur, fehlte ihm das Gefühl der Sinnhaftigkeit all seines Tuns.
Nach seiner Korrespondentenzeit in Paris setzte er sich mit sozialen Problemen auseinander. Selbst in dieser Zeit nahmen Antisemitismus und Zionismus nur einen geringen Teil seiner Aufmerksamkeit ein, obgleich er die Idee entwickelte, eine Erneuerung der gesellschaftlichen Stellung der Juden ließe sich durch einen Massenübertritt zum Katholizismus bewerkstelligen – im Wiener Stephansdom, natürlich unter dem Vorsitz des Papstes persönlich.

Krise und Selbstermächtigung

Herzls spätere Behauptung, der Dreyfus-Prozess habe ihn schließlich zum Zionisten gemacht, widerlegt Penslar glaubwürdig und unterstreicht, dass Herzl 1895 in einer existenziellen Krise gesteckt habe. In einer manischen Phase, die er in den Tagebüchern Herzls abgebildet sieht, habe dieser sein Pamphlet „Der Judenstaat“ geschrieben – mehr Vision als klare Vorstellung jüdischer Selbstermächtigung. Doch „Die Annahme des Judentums über den Zionismus war Herzls Errettung, seine Erlösung.“
Derek Penslars Herzl-Biografie ist die Würdigung eines Menschen, der sich selbst eine Mission gibt. Der mit beiden Beinen in seiner Zeit steht, aber in der Lage ist, über sie hinauszudenken. Der um seine persönlichen Defizite weiß, aber an sich und die Kraft der Transformation glaubt.
Was Herzl mit unermüdlicher Tatkraft innerhalb weniger Jahre gelang, musste auch anderen möglich sein – und so schuf er die Grundlagen für die kollektive Wiedergeburt eines ganzen Volkes.

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