Papst Franziskus

Lebenswirklichkeit als Prinzip

Armenviertel in Buenos Aires
Um Papst Franziskus zu verstehen, muss man eine "Villa" besuchen, so heißen die Armenviertel in Argentinien © picture alliance / dpa / picture-alliance / Joedson Alves
Von Tilman Kleinjung · 22.12.2015
Die Priester in den Armenviertel von Buenos Aires haben sich zu Anwälten der Not leidenden Bewohner gemacht. Dabei handeln sie ganz im Sinne von Papst Franziskus, der seine Theologie aus der Begegnung mit Menschen entwickelt.
Wer Padre Damián besuchen will, muss nach einer gewaltigen Ruine im Süden von Buenos Aires Ausschau halten. Hier sollte das größte Krankenhaus Südamerikas entstehen, das aber nie fertig gebaut wurde und seit den 40er-Jahren als Ruine ein trostloses Bild abgibt. Direkt daneben die "Villa Occulta". Die verborgene Stadt. Verborgen, weil 1978 bei der WM die Machthaber eine Mauer um das Viertel ziehen ließen, damit die Gäste das Elend nicht sehen.
"Momentan leben im Viertel circa 35.000 Menschen in sechs großen Wohnblöcken. Eine der Besonderheiten des Viertels ist der 'Eigenbau'. Das heißt, die Menschen bauen sich einfach ihre eigenen Häuser."
Um Papst Franziskus zu verstehen, muss man eine "Villa" besuchen. So heißen in Argentinien die Armenviertel, das sind keine richtigen Slums, keine Wellblech- und Bretterstädte, die Armut ist hier dennoch unübersehbar zu Hause. "Das war früher die Wohnung des Pfarrers", sagt Padre Damián und sperrt einen muffigen Verschlag auf. Eine Baracke mit feuchten Wänden und wenig Tageslicht. Irgendwann hat dann der Erzbischof von Buenos Aires erklärt "so geht das nicht weiter" und hat für die Pfarrer in diesem Viertel ein richtiges Pfarrhaus gebaut. Der Bischof hieß Jorge Mario Bergoglio.
"Bergoglio hat in diesen Vierteln ein Team von Priestern zusammengestellt. Ich weiß das Jahr nicht mehr; aber von Anfang an hat er Pfarreien eröffnet und gleichzeitig Priester seines Vertrauens und damit auch einen bestimmten pastoralen Stil dort installiert. Das war der Beginn der Villa Pfarrer, die es bis heute gibt. Wir treffen uns alle einmal im Monat, immer in einer anderen Villa und wechseln uns ab."
Für Papst Franziskus hat die Begegnung mit Menschen nicht nur eine soziale, eine pastorale Dimension, sagt der Theologe Omar César Albado von der Päpstlichen Hochschule in Buenos Aires. Aus Erfahrung, aus Lebenswirklichkeit wird Theologie.
"Mit den Lebensgeschichten der Menschen in Kontakt zu kommen, führt dazu, dass man einen ganz anderen theologischen Ansatz entwickelt, auch wenn das sehr banal klingt. Der Kontakt mit dem wirklichen Leben und den tatsächlichen Problemen der Menschen spielt bei der Entwicklung einer Theologie eine große Rolle."
Kirche als Feldlazarett
Franziskus wünscht sich die Kirche als Feldlazarett, das die auf dem Schlachtfeld des Lebens verletzten Menschen aufnimmt und versorgt. Dabei ist der Begriff Barmherzigkeit für ihn zentral. Einen Tag nach seiner Wahl besuchte Franziskus die römische Basilika Santa Maria Maggiore, betete mehrere Minuten lang in Stille vor dem Marienbild, das die Römer dort verehren und sprach anschließend mit den in der Kirche anwesenden Beichtvätern, denen er nur diesen einen Satz mitgab: "Seid barmherzig!", sagte der neugewählte Papst und lobte in seinem ersten Angelus Gebet in Rom das Buch des deutschen Kardinals Walter Kasper zum Thema "Barmherzigkeit".
"Gott gibt mir nochmal eine Chance, ich darf nochmal neu beginnen. Das ist Barmherzigkeit. Und das gehört zur Schönheit des Evangeliums, dass uns der christliche Gott kein absolutes System aufpfropft, so eine Scharia, ein Gesetz. Sondern, dass Gott den Menschen entgegenkommt, barmherzig ist – wenn der Mensch das will. Das ist natürlich die Voraussetzung, dass er umkehrt und sich neu orientiert."
Wie geht Kirche mit dem Scheitern um? Mit Verrat und Versagen? Mit Wunden und Schmerzen? In der "Villa Occulta" in Buenos Aires gibt es all das, möglicherweise mehr als an anderen Orten der Welt. Mehr Arbeitslosigkeit, mehr Drogen, mehr Gewalt. Kardinal Bergoglio hat sich gerade deshalb zum Anwalt der Bewohner gemacht. Einmal pro Jahr kam er zu Besuch, firmte die Kinder und feierte mit der Gemeinde. Fast jeder im Viertel hat ein Foto vom Kardinal im Haus, fast jeder kann eine Bergoglio Geschichte erzählen. Auch Padre Damián, der junge Priester. Er zeigt eine Karte, die ihm der Papst geschickt hat, mit den besten Wünschen zu seiner Priesterweihe und mit der Bitte: "Bete für mich, ich habe es nötig." "Das ist die wichtigste Lektion", sagt Damián, "dass wir uns als Priester nicht über andere erheben."
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