Kommentar zur Ost-Identität

Verachtung und Bewunderung als dialektische Einheit

04:19 Minuten
Demonstration am 5.4.1990 in Ostberlin, auf dem ein Umtauschkurs von 1:1 gefordert wurde bei Einführung der D-Mark in der DDR.
Demonstration im April 1990 in Ostberlin: Forderungen nach einem generellen Umtauschkurs von 1:1. © picture-alliance / dpa / Peter Kneffel
Von Lutz Rathenow · 10.05.2024
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Seit Monaten wird über die - wie viele meinen - zu lange unterdrückte Ost-Identität ehemaliger DDR-Bürger gestritten. Lutz Rathenow meint: Hinter vielen ostdeutschen Politik-Phänomenen sei der paradoxe Wunsch zu erkennen, den Westen zu zerstören.
Global betrachtet funktionierten die Begriffe Osten und Westen nur verlässlich, wenn einer sich die Erde wieder als Scheibe vorstellt, um die Himmelsrichtungen besser trennen zu können. Es gibt den Osten nicht, hat ihn nie gegeben, die Interessenlagen waren und sind konträr.
DDR-Hausbesitzer erfuhren rasch rasante Wertsteigerungen, Mieter in den großen Städten sichere Mietsteigerungsperspektiven. Interessanterweise ist für viele nicht der 3. Oktober 1990 mit deutlichen Erinnerungen an den West-Eintritt verbunden, sondern der 1. Juli 1990 – die Währungsreform.

Ein für den Westen unvorteilhafter Kurs

Besonders im damaligen Ostberlin, mit einem Stück Westen vor der Haustür, in Laufweite sozusagen. Dass sich im Westen nicht alles nur um den Profit drehte, erkannten einige schon bei den 6000 DDR-Mark, die 1:1 pro Person in D-Mark umgetauscht werden konnten. Denn was einer sonst noch auf dem Konto hatte, bekam er 2:1 in Westgeld, ein für den Westen unvorteilhafter Kurs, gemessen an der ökonomischen Devisenfähigkeit der alten DDR-Mark.
In meinen Lyriker- und Bürgerrechtler-Kreisen gab es einige, die keine Sechstausend auf dem Konto hatten und von anderen deren überschüssiges Geld übernahmen und sich den Tauschgewinn teilten. Nicht jeder zahlte sofort zurück, ich hörte noch Jahre später Gerüchte über ungeregelte Ansprüche. Der Start in den D-Mark-Westen begann also mit dem Versuch, ihn auszutricksen.

Minderwertigkeitskomplexe und Größenwahn

Seither bilden Verachtung und Bewunderung eine dialektische Einheit, zwischen selbstbewussten Minderwertigkeitskomplexen und angstgehemmtem Größenwahn pendelten die Haltungen. „Also wenn für meine anspruchsvolle Literatur kein Platz mehr sein soll“, höre ich noch einen Schriftsteller sagen, „werde ich eben Bestseller-Autor“. Er sprach das Wort mit viel noch nicht durch Erfahrung gedämpfter Verachtungsfreude aus.
Die verschiedenen Ost-Identitäts-Herkünfte schauen misstrauisch einander an. Der kleinste gemeinsame Nenner aller Ex-DDR'ler: die Forderung jeder anderen Gruppe schweigend abzunicken.

Eine Überzeugung gerät ins Wanken

Mit Geld lässt sich alles regeln: Bei der Finanzkrise 2008 geriet diese Überzeugung ins Wanken. Sie erschütterte das Vertrauen in die Überlegenheit des Westens. Aber die Bankenrettung, die sozial natürlich richtigen, permanenten und steigenden Zuschüsse durch den Staat an die Rentenkasse, die Krankenkassen, in Krisenfällen für milliardenschwere Nothilfen und anderes haben psychologische Nebenwirkungen: Im Zweifelsfall scheint einerseits immer Geld da zu sein.

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Andererseits wird staatlicherseits beteuert, es sei nie genügend da. Deshalb müsse man immer mehr fordern, sonst wählten alle in den Ost-Bundesländern Parteien, die besser nicht an die Macht kommen sollten – sagen jene, die betonen, die AfD keinesfalls zu wählen. Ihr Rezept ist im Grunde ein Überbietungswettbewerb der alten 6000er-Umtauschquote nach oben.

Es hat doch immer geklappt

Es wird irgendwie schon klappen, es hat immer geklappt seit 1945. Die astronomischen Staatsschulden der USA haben ja deren Dominanz nicht untergraben, scheinbar zumindest. Der Osten hat Lust, den Westen zu zerstören, weil er ihn für unzerstörbar hält.
Das ähnelt der Familienkonstellation in der Pubertät. Die jugendlichen Provokationen basieren ja auf der tiefen Gewissheit, dass die Eltern alles aushalten werden. Am Ende allerdings sind die Jugendlichen die Erwachsenen.
Vielleicht sollte der Westen einfach den Osten zum neuen Westen erklären: "Jetzt seid ihr dran! Zahlt für uns – oder findet bessere Lösungen!" Da würde auf Ost-Seite genickt und nachgefasst: "Klar - vorher nur die Kreditlinien für die Gestaltung der neuen Aufgaben klären."

Lutz Rathenow, Berliner Schriftsteller und ehemaliger Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Sachsen, veröffentlichte zuletzt „Trotzig lächeln und das Weltall streicheln. Mein Leben in Geschichten“ (Kanon Verlag).

Der DDR-Oppositionelle Lutz Rathenow
© picture alliance / dpa / Jens Kalaene
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