Kommentar

Der "Ossi" - ein selbstgewähltes Stigma

04:33 Minuten
T-Shirt einesTeilnehmers einer AfD-Wahlkampfveranstaltung auf dem Theaterplatz in Dresden, auf dem "Böhser Ossi" steht.
Wenn sich Wessis in Acht nehmen müssen: T-Shirt einesTeilnehmers einer AfD-Wahlkampfveranstaltung vor den Landtagswahlen in Sachsen. © picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert
Ein Einwurf von Simone Schmollack |
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In der öffentlichen Diskussion kommt  der "Ossi" oft als ewig schlecht gelaunter, AfD-affiner Mensch vor, der nie so recht in der Demokratie angekommen ist. Ein unfaires Stereotyp? - Ganz bestimmt. Doch daran sind die Ostdeutschen auch selbst schuld.
Alles Nazis da drüben. Denn das mit der Demokratie haben die Ossis immer noch nicht begriffen. Und undankbar sind sie auch noch.
So in etwa tönt es auch 35 Jahre nach dem Mauerfall über den Osten. Und jetzt, in diesem Superwahljahr mit drei Landtagswahlen, bei denen die AfD abgeräumt hat wie noch nie zuvor, wird der Osten von manchen Politikwissenschaftler:innen auch noch als Labor beschrieben: So wie in Ostdeutschland könnte es politisch bald auch in Westdeutschland aussehen.
Als Ostdeutsche könnte ich jetzt vielleicht jubeln: Großartig, der Osten ist Trendsetter. Doch das Gegenteil ist der Fall, mir gehen all die Klischees und Stereotype gehörig auf die Nerven. Warum sollen Ostdeutsche, weil sie nicht wählen, wie der Westen es gern hätte, stumpfe Demokratieverweigerer sein? Und warum sollen Ostdeutsche Westdeutschen ähneln, nur weil die Wende schon Jahrzehnte zurückliegt?

Platte Zuschreibungen aus dem Westen

Nun klagen meine ostdeutschen Landsleute gern über diese Stigmatisierungen und platten Zuschreibungen aus dem Westen. Aber sind sie nicht auch selbst schuld daran? Denn seit einiger Zeit wird eine Ostalgie heraufbeschworen, die für mich nicht nur fragwürdig, sondern vor allem unverständlich ist. Da wird dem - ach so schönen - Zusammenhalt im Betrieb und in der Kleingartenanlage nachgetrauert, die Simson - ein stinkendes Moped - zum Kultobjekt hochgejubelt und ventiliert, dass Geld früher nicht so wichtig war wie heute.
Das ist kein positives ostdeutsches Selbstbewusstsein, das ist Geschichtsvergessenheit. Liebe Landsleute, habt ihr vergessen, wie ihr in der DDR leben musstet? Wie sehr ihr es gehasst habt, im Urlaub weitestens bis nach Bulgarien reisen zu können, aber meist doch nur bis zum Straussee in Brandenburg kamt? Könnt ihr euch nicht mehr an den Slogan erinnern "Keine politischen Witze im Betrieb und keine Geliebte im Wohngebiet", weil ihr immer damit rechnen musstet, dass ein Stasi-Spitzel um die Ecke biegt?
Ihr könnt mir auch nicht erzählen, dass Konsum auf Westniveau für euch nicht so wichtig ist. Im Gegenteil: Sobald das erste Westgeld auf dem Konto war, wurde die stonewashed Jeans gegen eine Levis getauscht, das Flugticket nach Mallorca gebucht und sich der VW Golf vor die Tür gestellt. Und endlich durften wir so laut und offen meckern, wie es die meisten von uns bis dahin nur in den eigenen vier Wänden getan hatten.

Kaum jemand will die DDR wiederhaben

Die wenigsten Ostdeutschen wollen die DDR wirklich wiederhaben. Trotzdem halte ich die neue ostdeutsche Vergangenheitsverklärung für kurios, beschämend, gefährlich. Sie macht es nicht nur populistischen Parteien wie AfD und BSW leicht, von Rügen bis zum Thüringer Wald Stimmen einzusammeln. Vor allem aber stellen sich Ostdeutsche, die sich das Label anheften "Ich bin Ossi und das ist gut so", in eine Ecke, aus der sie seit 35 Jahren eigentlich rauswollen. Jedenfalls änderte sich der Demoruf in den Monaten bis zur Wiedervereinigung rasant von "Wir sind das Volk" zu "Wir sind ein Volk".
Heute fühlt sich knapp die Hälfte der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse. Das ist zwar verständlich, weil Ostdeutsche nach wie vor zu selten bei den Eliten zu finden sind und die Lebensleistung der heutigen Rentner und Rentnerinnen lange abgewertet wurde. Aber Ostalgie ist auch bequem, damit lässt sich Eigenverantwortung so leicht wegwischen wie Krümel vom Tisch. Ein Leben in Freiheit heißt nämlich auch, sich stärker um sich selbst zu kümmern. Unabhängig davon geht es nahezu allen Ostdeutschen heute materiell besser als in der DDR, selbst die Ärmeren müssen im Winter keine Kohlen mehr in den Ofen schieben und können jeden Tag frisches Gemüse im Supermarkt kaufen.
Ostalgie gehört, ganz klar, in den Stasi-Knast.
Es gibt nur eine einzige Ausnahme: das Jägerschnitzel, gebratene panierte Jagdwurst mit Spirellinudeln und süßer Tomatensauce. Da bin und bleibe ich durch und durch Ostdeutsche.

Simone Schmollack ist Journalistin und Buchautorin und leitet bei der "tageszeitung" das Ressort Meinung. Ihre Themenschwerpunkte sind Frauen, Familie, Gender, Soziales, Ostdeutschland, Migration/Integration. Ihr letztes Buch "Und er wird es wieder tun" befasst sich mit Gewalt in der Partnerschaft.

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