Orsolya Kalász: "Das Eine"

Vogel ohne Schnabel und Krallen

Orsolya Kalász: Gedichte über ein flüchtiges Phänomen - die Liebe
Orsolya Kalász' Gedichte widmen sich einem flüchtigen Phänomen - der Liebe. © AFP / Martin Bureau / Brueterich Press
Von Helmut Böttiger · 31.07.2017
Die Ungarin Orsolya Kalász legt mit "Das Eine" einen Gedichtband vor, der sich vor allem mit der Liebe beschäftigt. Die Gedichte handeln von Sehnsucht und Vergeblichkeit: Auch, was scheinbar sicher zu sein scheint, erweist sich bei näherem Hinsehen als flüchtig.
Dieses Buch, das erste auf Deutsch geschriebene der Autorin, hat auf Anhieb den diesjährigen Peter Huchel-Preis für Lyrik bekommen. Das überrascht um so mehr, als es in der dem üblichen Buchvertrieb und -handel weitgehend entzogenen "Brueterich Press" des Lyrikers Ulf Stolterfoht erschienen ist. Das Motto dieses Verlags weist allerdings schon auf einen erheblichen Distinktionsgewinn hin: "Schwierige Lyrik zu einem sehr hohen Preis – dann ist es Brueterich Press!"
Die Ungarin Orsolya Kalász ist zum Teil in Berlin aufgewachsen und lebt mittlerweile seit langer Zeit ständig in der deutschen Hauptstadt. Sie hatte hier bisher drei zweisprachige Gedichtbände veröffentlicht: Die Texte sind dabei ursprünglich auf Ungarisch geschrieben worden und wurden anschließend von ihr selbst ins Deutsche übersetzt.

Liebe als zentrales Thema

"Das Eine" ist nun von Anfang an auf Deutsch verfasst worden, der Titel spielt unter anderem darauf an. "Das Eine" ist aber auch die Liebe – das zentrale Thema dieser Gedichte. Sie bilden einen Zyklus von Sehnsucht und Vergeblichkeit, und man kann in der schwebenden Leichtigkeit, in den dahingehauchten Zeilen eine Sphäre zwischen den Sprachen erkennen, fast, als ob eine ungarische Grammatik im Hintergrund arbeiten würde.
Auch, was scheinbar sicher zu sein scheint, erweist sich bei näherem Hinsehen als flüchtig. Das Ich ist unbestimmt und kann im nächsten Moment etwas ganz Anderes sein.
Andererseits steht die Liebe hier im Zeichen der Heraldik. Das ist ein frappierender Zugriff: Das frei Fluktuierende der Liebesempfindungen wird in den Bezugsrahmen der Wappenkunde gestellt.
Einen Orientierungspunkt bildet dabei der Band "Preußische Wappen" von Gertrud Kolmar aus dem Jahr 1934, der Dichterin und Malerin, die auch direkt aufgerufen wird.

Wappen, Fabeltiere und Zaubersprüche

"Was das Gedicht im Schilde führt" sind unter anderem etliche Fabeltiere und moderne Zaubersprüche. Wappen haben die Eigenschaft, zu verdeutlichen und zu übertreiben. Eines der schönsten Gedichte, "Die große Kunst der Deutlichkeit", führt das in all seiner Ambivalenz vor. Der Zugang zu den Erfahrungen wird in der Form des Wappens durch Siegel, Stempel und Prägung ermöglicht, "das Wenige, das für mehr und noch mehr bürgt".
Die Lyrikerin Orsolya Kalász war im Rahmen des Lyriksommers zu Gast bei Deutschlandradio Kultur. Sie dichtet auf Deutsch und Ungarisch.
Die Lyrikerin Orsolya Kalász war im Rahmen des Lyriksommers 2015 zu Gast im Deutschlandradio Kultur. Sie dichtet auf Deutsch und Ungarisch.© Deutschlandradio / Cornelia Sachse
Das Wappentier, das die Dichterin für sich auswählt, ist die Merlette, die "gestümmelte Amsel", ein Vogel ohne Schnabel und Krallen: ein vieldeutiges Bild für die Liebende, deren Poesie aber dadurch zu einem kleinen "Herzschild" wird und Schutz bietet.
Drei Gedichte sind unter dem gemeinsamen Titel "Verstehen heißt Antworten" über den Band verstreut, es ist das bestimmende Diktum des Psychoanalytikers Aron Ronald Bodenheimer, dessen Ausgangspunkt lautet: Wie entspreche ich meinem Gegenüber am besten?

Küssen ist eine schöne Antwort

Eine Zeile von Orsolya Kalász umspielt diese Frage auf charakteristische Weise: "Küssen ist eine schöne Antwort." Das Antworten aber umreißt in ihren Gedichten in erster Linie auch eine Poetologie: Es geht darum, Verkrustungen zu überwinden, flüssig zu werden, das Erstarren in festgefügten Wendungen zu vermeiden.

Orsolya Kalász: Das Eine
Brueterich Press, Berlin 2017
85 Seiten, 20 Euro

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