Orlando Figes: "Die Europäer"

Die verbindenden Fäden der Kunst

06:29 Minuten
Cover: Orlando Figes "Die Europäer" vom Hanser Verlag
Cover: Orlando Figes "Die Europäer" © Hanser Verlag / Deutschlandradio
Von Edelgard Abenstein · 29.10.2020
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Orlando Figes verwebt in seinem Buch über Turgenjew und das Ehepaar Viardot Biografisches und Historisches zu einem dichten, faszinierenden Bild der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
In der akademischen Welt steht der Autor seit jeher in der Kritik: Orlando Figes, 1959 geboren. Er ist Professor für russische Geschichte in London. In sechs auflagenstarken, populär geschriebenen Büchern hat er sein Verfahren perfektioniert, über Literatur, Musik und Kunst zeitgeschichtliche Panoramen russischer Geschichte zu entwerfen. Stets mit Schwerpunkt Stalinismus. Unrühmliches Aufsehen erregte er 2012 mit anonym bei Amazon erschienenen Rezensionen zu Werken seiner Kritiker, die ihm zuvor den Einsatz verfälschter Quellen vorgeworfen hatten.
Jetzt hat Figes das Sujet gewechselt. Er macht Europa zum Thema seines Buches. Im Mittelpunkt stehen drei Personen, die ihm exemplarisch scheinen für die rasante kulturelle Entwicklung des europäischen Kontinents in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: die berühmte, aus spanischer Familie stammende Sängerin Pauline Viardot, ihr Ehemann und Manager Louis Viardot, exzellenter Kenner der Kunst- und Musikszene, und der russische Schriftsteller Iwan Turgenjew, der zeitlebens mit den beiden in einer Ménage à trois verbunden ist.

Wirtschaftlicher Fortschritt und Kunstgenuss

Wie in einem Brennglas schildert Figes das Trio vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Fortschritts, allem voran die Eisenbahn und die Erfindung der Lithografie. Das neue Fortbewegungsmittel hat auch Viardots Leben beschleunigt und bereichert, verstand es doch die tüchtige Geschäftsfrau, auf ihren rastlosen Tourneen die höchsten Tantiemen für sich auszuhandeln.
Dass nun auch ein großes Publikum die Grenzen zwischen den Ländern billiger und komfortabler überschreiten konnte, hatte ungeahnte Folgen für den Kulturaustausch. Genauso wie die neuen Drucktechniken, die eine Massenproduktion von Büchern und Noten erlaubten, so dass man jetzt auch die großen Opernarien in handlichen Klavierauszügen selbst vom Blatt singen konnte.
Figes erzählt vom Opern- und Konzertbetrieb und wie es kam, dass von St. Petersburg bis Palermo und von London bis Rom Verdi, Bellini und Meyerbeer auf dem Spielplan standen. Oder in Bürgersalons statt großformatiger Alter Meister neue Landschaftsbilder in "Sofagröße" an den Wänden hingen. Und das erstmalig eingeführte Copyright Schriftstellern wie Komponisten ein finanzielles Auskommen sicherte.

Ein "Who is Who" der künstlerischen Prominenz Europas

All das ist nach dem Prinzip des assoziativen Verknüpfens mit ungeheurer Detailfülle ausgebreitet. Oft liest sich das Buch wie das "Who is who" der künstlerischen Prominenz in Europa. Liszt, Zola, Flaubert, Tolstoi, Chopin, Hugo, Fontane, alle kommen vor.
Allerdings, die Fäden, die Figes zwischen den drei Protagonisten, den wiederkehrenden Orten und den technischen Entwicklungen spinnt, bleiben oft lose in der Luft hängen. Vor allem im ersten Teil stehen die biografischen Passagen unverbunden im Raum. Es mangelt oft an Struktur. Da hilft auch ein an der Chronologie orientierter Index am Ende des Buches nicht wirklich weiter.
Dennoch liefert das Buch ein reizvolles Panorama der grenzüberschreitenden Macht von Literatur, Musik und Malerei. Und es liefert so einen Beleg dafür, dass es - mehr als Politik und Religion - die Kunst ist, die für das, was wir europäische Identität nennen, eine nicht hoch genug zu schätzende Rolle spielte.

Orlando Figes: "Die Europäer. Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur"
Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
Hanser Berlin, Berlin 2020
640 Seiten, 34 Euro

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