Ein vollständig entleerter Himmel

"Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftsteller bitten. Diese Woche: Christoph Peters, viel auf Reisen, wohnhaft in Berlin.
Im Prinzip wäre es natürlich sinnvoll, jeweils zusammenzufassen, was bereits gesagt wurde, andererseits ist die Zeit knapp – drei Minuten, heute, am Mittwoch, den 3. September 2014, in Wirklichkeit vor genau einer Woche. Wenn Sie eine Frau sind, billigt die Statistik Ihnen aktuell gut 82 Lebensjahre zu, als Mann bleiben immerhin 77. Damit liegen wir deutlich besser als alle Generationen vor uns, trotzdem: verdammt wenig, aufs Ganze gesehen. Und seit diesem Moment hat sich schon wieder eine volle Woche ins Nichts verabschiedet.
Wahrscheinlich sitze ich gerade an meinem Schreibtisch, nachdem ich gestern aus München zurückgekehrt bin, heute jedoch mit dem Zug aus Aachen kommen werde. Auch wenn ich weiß, dass ich den Himmel über der Straße sehen kann, werde sehen können, bin ich dementsprechend nicht in der Lage, etwas über das gegenwärtige Wetter zu sagen. Es war aber bereits festgestellt worden, dass das Wetter als Thema sich dieser Tage ohnehin nur geringer Wertschätzung erfreut, auch wenn es sich im Prinzip hervorragend dazu eignen würde, die innere Verfasstheit der Figur oder des Erzählers – in diesem Falle also meine –, hier und jetzt heraufzubeschwören ohne peinlich direkte Aussagen über Gefühlslagen oder gar Launen machen zu müssen: Wie viel feiner ist doch die Beschreibung einer geschlossenen Wolkendecke, die sich allmählich, ohne dass dramatische Winde zu Hilfe kommen, von Westen her öffnet und ein fahl grün schimmerndes Blau freigibt, in dem schon der nahende Herbst anklingt, verglichen mit dem Satz: Ich fühlte mich ein bisschen bedrückt, aber jetzt geht es mir besser, ich weiß auch nicht warum, zumal die Aussicht insgesamt trüb ist.
Furchtbar und beängstigend oder von geradezu überirdischer Schönheit?
Einer meiner Lehrer, Günter Neusel, hat erzählt, sein Großvater habe ihm als kleinem Jungen prophezeit, wenn er erst erwachsen sei, werde er sicher einmal Wolkenschieber. Das muss in den späten dreißiger oder frühen vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gewesen sein. Er habe sich lange Zeit keine rechtes Bild vom Beruf des Wolkenschiebers machen können, sagte Günter Neusel, erst als er mit fünfzehn angefangen habe zu malen – Aquarelle von Himmeln, an denen er die Wolkenformen mit dem Pinsel seiner jeweiligen Gestimmtheit entsprechend verschoben habe, sei ihm klar geworden, welche Art Mensch der Großvater wohl in ihm gesehen habe. "Am liebsten", endete Günter Neusel seine Erzählung, "am liebsten würden wir echten Wolkenschieber die Stille unseres Ateliers ja gar nicht mehr verlassen."
Dem kann ich im Grunde nur zustimmen, zumindest jetzt, wo ich hier sitze und aus dem Fenster in den vollständig entleerten Himmel schaue. Er bleibt so, heute, und das ist ein außerordentlich überraschender Anblick. Ich kann mich noch nicht entscheiden, ob ich ihn furchtbar und beängstigend oder von geradezu überirdischer Schönheit finde, in seiner unfassbaren Lautlosigkeit, während gerade mein Zug nach Berlin einfährt.