Originalton

Bitte kneifen Sie sich in den Arm!

Eine schreiende junge Frau
Schreiende Frau: Reflexionen über Erinnerungen an das Echo des Schmerzes © picture alliance / CTK
Von Christoph Peters |
"Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftsteller bitten. Diese Woche: Christoph Peters, viel auf Reisen, wohnhaft in Berlin.
Erstaunlich, finden Sie nicht auch? – Ich meine, dass wir immer noch da sind – Sie dort draußen am Radio und ich eine Woche vor dem jetzigen Zeitpunkt in meiner Wohnung am Schreibtisch. Wir sind da, obwohl ständig so viel, um nicht zu sagen: alle Zeit der Welt mit uns vergeht. Was die Frage aufwirft, welcher Teil – oder sollte ich sagen, welche Aktualisierung von uns, Ihnen und mir – immer noch da ist? Ich hatte ja bereits das Schwindelgefühl erwähnt, das leicht über einen herfallen kann, wenn man sich den grundlegenden Gegebenheiten unseres Aufenthalts offen und unvoreingenommen stellt.
Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Ich will mich meiner wirklichen Anwesenheit vergewissern und fasse deshalb den Gedanken, mir jetzt gleich ins weiche Fleisch des Unterarms zu kneifen, nicht zu fest, so dass es nicht ernstlich weh tut, aber doch schon deutlich spürbar ist ... - Folgen Sie mir? Haben Sie den Gedanken? Nur nebenbei, um das Problem noch einmal zu vergegenwärtigen: Dieser Gedanke ist bereits in die allumfassende Vergangenheit verschwunden, während Sie ihn in die Tat umsetzen. Jetzt spüren Sie ihre Fingernägel und die Hautausstülpung dazwischen.
Experiment im Radio
Schauen Sie auch hin: Dünne Faltenwürfe haben sich rechts und links der Kneifstelle gebildet, gleich wird es schmerzen, noch nicht. Stopp. Lassen Sie los. Wir folgen hier ja keiner dunklen Obsession, sondern machen lediglich ein kleines wahrnehmungsphysiologisches Experiment. Wenn Sie unmittelbar nach dem Loslassen für einige Momente aufgehört hätten, mir zuzuhören, hätten Sie den Nachhall des Gefühls kurz vor dem Schmerz gespürt, wie es abklingt und vom Gefühl zur Erinnerung an ein Gefühl wird, das sie wegen seiner Belanglosigkeit gleich wieder vergessen hätten. So aber, weil Sie sich das Geschehen vor Augen führen, bleibt die Erinnerung ein wenig länger, ungefähr bis Ihr Telefon klingelt:
Ihre älteste Tochter ist dran und fragt, ob Sie ihr vielleicht etwas Geld überweisen können, weil das Auto, das sie fährt und das noch auf Ihren Namen zugelassen ist, neue Bremsbeläge braucht – das schafft sie nicht von dem bisschen Bafög, das sie bekommt ...
Ist sie noch da die Erinnerung an das Echo des Schmerzes oder hat bereits das erfundene Telefonat mit Ihrer nicht-existierenden Tochter gereicht, um unser kleines Experiment aus Ihrem Bewusstsein zu löschen?Sie schütteln den Kopf, ich kann es schon jetzt, eine Woche vorher hören, das Schaben ihres Halses am frisch gebügelten Hemdkragen, dazu das leise Knacken der Nackenwirbel, oder nein: Es ist nur das weiche Geräusch dünnen T-Shirt-Stoffs an der Stuhllehne und Ihnen ist immer noch warm.
Womit wir wieder beim Wetter wären. Ich selbst trage heute einen bretonischen Streifenpullover, weil es relativ frisch draußen ist, aber natürlich noch viel zu früh, um die Heizung einzuschalten, zumal die Sieben-Tage Prognose sagt, dass es, an Ihrem Freitag, dem 5. September 2014, wieder wärmer geworden sein soll. Und jetzt stellen Sie sich vor, statt sich zu kneifen, wären sie eben gerade mit dem Zeigefinger in die Kreissäge gekommen.