Originalton

Ausgerechnet Neukölln, Teil 5

Ein Passant läuft im Gewitterregen über eine Straße in Berlin-Neukölln.
Ein Passant läuft im Gewitterregen über eine Straße in Berlin-Neukölln. © dpa / picture alliance / Kay Nietfeld
Von Daniel Schreiber |
In dem Berliner Stadtteil Neukölln ist kaum Platz für soziale Kontrolle, meint Daniel Schreiber. Die Reichweite dessen, was als normal gilt, scheine hier größer. Gemeinsamkeiten findet Schreiber mit einem Stadtteil in Paris.
Ich frage mich oft, ob Städte und Stadtteile so etwas wie historische Psychogramme haben, eine Art Kern, der sich von Einwohnergeneration zu Einwohnergeneration überträgt. Montmartre, zum Beispiel, das legendäre Stadtviertel von Paris, wird immer etwas Künstlerisches haben, immer etwas Verruchtes, auch wenn die heutigen Immobilienpreise dort die jungen darbenden Künstler von damals, Picasso, Toulouse-Lautrec und Van Gogh, in Windeseile in die Banlieues getrieben hätte. Ähnlich verhält es sich mit Neukölln. In gewisser Hinsicht ist es das Berliner Äquivalent zu Montmartre. Und das war es schon immer.
Früher hieß Neukölln Rixdorf. Im 19. Jahrhundert war Rixdorf Berlins heißestes Pflaster, die große Vergnügungsmeile im Südosten der Stadt, mit Kneipen und Bordellen, von Chanteusen und Big Bands besungen. Im Januar 1912, zum 52. Geburtstag von Kaiser Wilhelm II. wollten die Berliner Regierenden ihrem preußischen Staatsoberhaupt ein Geschenk machen und benannten Rixdorf einfach um. Im Namen klang nostalgisch die Stadt Cölln an, Vorgängersiedlung und Teil des historischen Berlins, schon damals so gut wie vergessen. Mit dieser wertigen Umbenennung sollte auch das schlechte Image abgestreift werden. Wie wir wissen, hat das bis heute nicht geklappt.
Die Psychogramme von Stadtteilen sind natürlich nicht von den Biografien ihrer Bewohner zu trennen, von den Biografien der Generationen, die ihre Häuser, Wohnungen, Läden und Kneipen an die nächste weiterreichen. Wie so viele Entscheidungen im Leben, trifft man auch die Entscheidung, wo man wohnt, weitgehend unbewusst, glaube ich. Ich selbst zumindest bin weitgehend ohne rationales Zutun hier gelandet. Sicherlich, Immobilienpreise, der Weg zum Arbeitsplatz, Anbindung ans Grüne – all das sind Faktoren, die man durchaus rational abwägen kann. Aber davor kommen jene Entscheidungen, die man trifft, ohne sich dessen bewusst zu sein. Passt meine Vorstellung von mir zu dieser Gegend? Was löst die Atmosphäre in mir aus, in die ich eintauche, wenn ich einen Stadtteil betreten, was die Sprachfetzen, die mich hier und da erreichen? Wie reagiere ich auf die Architektur? Kann ich in schäbigen Altbauten leben? Passt das hier zu meinem Leben oder nicht?
Wenn ich daran zurückdenke, wie ich hier ankam, waren das auch die Faktoren, die intuitiv meine Wahl, in Neukölln zu wohnen, bestimmten. Ohne, dass ich es damals hätte verbalisieren können, verspürte ich eine Freiheit, als ich damals das Stadtviertel nach so vielen Jahren zum ersten Mal wieder betrat. Im Prenzlauer Berg oder in Mitte verspürte ich manchmal eine gewisse Enge, die Klaustrophobie eines neuen Wohlstands, der ins Immergleiche und Selbstgerechte kippen konnte. Neukölln, das versprach eine Freiheit des Ortes, eine Freiheit des Denkens. Die Leute schienen sich nicht groß dafür zu interessieren, wer du bist, wie viel du verdienst und was du anhast. Zwischen totalvergoldeten Läden für arabische Hochzeitskleider, zwischen spanischen Hipstercafés und Alt-Berliner Eck-Etablissements scheint in Neukölln, damals wie heute, nicht so viel Raum für soziale Kontrolle zu bleiben. Die Reichweite dessen, was als normal oder akzeptabel oder unauffällig gilt, scheint hier größer als in anderen Gegenden Berlins zu sein. Und das ist nichts weniger als eine kleine Form von Glück.
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