Oranienburg in Brandenburg

Lebensreform-Siedlung "Eden" auf der Suche nach Zukunft

"Eden – Erbaut im Jahre 1894, angebaut 1897, erweitert 1927": Blick auf das Wappen am Genossenschaftshaus in der Obstbausiedlung "Eden" im brandenburgischen Oranienburg, aufgenommen 2008
Das Wappen am Genossenschaftshaus in der Obstbausiedlung "Eden" © picture-alliance/ ZB/Patrick Pleul
Von Rebecca Hillauer · 17.12.2018
Anders, gesünder, naturnaher leben – das ist keine Idee unserer Tage. Schon im 19. Jahrhundert suchten Menschen nach einem alternativen Lebenskonzept: Die Obstbaumkolonie Eden in Oranienburg nahe Berlin ist die älteste noch bestehende Lebensreform-Siedlung.
Ein spätsommerliches Septemberwochenende. Kulturfestival in Eden. In seiner Performance nimmt Stephan Dillemuth künstlerische Lebensweisen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert unter die Lupe. Zu jener Zeit entstand auch der Ort Eden.
"Wir sonnen den Leib, ja wir sonnen den Leib, und das ist unser einziger Zeitvertreib."
Rund 1500 Menschen leben inzwischen in der Obstbaumsiedlung, im eher kargen Brandenburg, nördlich von Berlin, in Oranienburg. Die Stadt war bereits vor 125 Jahren ein Verkehrsknotenpunkt. Wer weg wollte aus Berlin, hatte es bis hierhin nicht weit.
"1890 herum, hatten die Städte ähnliche Problematiken wie jetzt. Sie waren überfüllt, sie waren überteuert. Und ein Teil der Bevölkerung hat sich aufgemacht, um neue Wege zu suchen. Und da ist eben die Lebensreformbewegung entstanden",
erzählt Christoph Leitner. Er lebt mit seiner Partnerin Karin Kasböck und der gemeinsamen Tochter Josephine seit vier Jahren in Eden. Die Familie wohnt in einem großen alten Haus mit Garten im Wilhelm-Groß-Weg. Benannt nach dem Bildhauer Wilhelm Groß*), der das Dritte Reich als sogenannter Halbjude in seinem Haus in Eden überlebte.
"Sind wir über das Angebot hier gestolpert, das war zufällig auf dem freien Markt. Wir sind dann so durch die Siedlung gestreift."

Eine eignene Parzelle zur Selbstversorgung

Die Gründer waren Lehrer, Ärzte, Juristen - und Vegetarier. Ihre Vision war eine naturnahe Boden-, Wirtschafts- und Lebensreform. Jede Parzelle war 2800 Quadratmeter groß, genug zur Selbstversorgung. Der Grundgedanke war: Um Spekulationen mit den Grundstücken auszuschließen, war der Boden Eigentum der Genossenschaft. Nur die Häuser gehörten und gehören den Siedlern. Zugleich sollte die Kolonie ein Ort sein, an dem man auch arbeiten konnte. So entstand ein genossenschaftlicher Betrieb, in dem neben naturtrübem Most auch viele neue Produkte entwickelt wurden: Eingelegte Früchte, pflanzliche Brotaufstriche und eine Margarine, die als "Eden-Reformbutter" ein Verkaufsschlager wurde. Diese Geschichte hatte Karin Kasböck vor Augen, als sie mit ihrer Familie nach Eden zog.

"Da hatte man den alten Geist der Lebensreformbewegung auch noch. Der aber sich im zweiten Anlauf, als wir schon da waren, schon auch als historischer herausgestellt hat. Dass man sehr schnell gemerkt hat, hier stimmt irgendetwas nicht. Es wird immer etwas erzählt, was nicht mehr da ist. Es hängt so zwischen der Geschichte und der Zukunft – und bleibt da drin stecken."
Anlässlich des 125-jährigen Jubiläums von Eden initiierten Karin Kasböck und Chistoph Leitner daher im September das Kulturfestival. Das Paar hat zudem einen eigenen Verein gegründet. Sein Name "RE:EDEN" soll Programm sein: Ziel sei es, an die ursprünglichen Ideale und Utopien zu erinnern und, darauf aufbauend, Visionen für die Zukunft zu entwickeln.
Auf Einladung des Vereins entwickelten im Rahmen einer Sommerakademie Studenten aus Berlin, Eberswalde und Potsdam Konzepte für ein künftiges Eden.
Beim Kulturfestival RE:EDEN wurden die Entwürfe ausgestellt und diskutiert. Eine Studentin erläutert sie für Besucher:
"Man kann hier jeden fragen und die können einem jede Pflanze nennen. Und da haben wir überlegt, warum das Wissen nicht weitergeben."

120 Bäume alter Apfelsorten

Einer, der sein Wissen über Jahre hinweg an andere Edener weitergegeben hat, ist Alexander Schatjajew. Der gebürtige Russe war seit 1999 von der Genossenschaft als Berater für ökologischen Gartenbau und Pflanzenschutz angestellt.
"Hallo! Hallo! Herr Schatjajew!"
"Guten Tag. Hallo."
Auf der großen Streuobstwiese, mit 120 Bäumen alter Apfelsorten, hatte der Gärtner eine Apfeldemonstrationsanlage eingerichtet. Außerdem hatte er einen Lehrgarten angepflanzt und Informationstafeln über Bienenzucht aufgestellt.
Doch dann kam das Jahr 2009, und der Vorstand von Eden beschloss, Alexander Schatjajew zu entlassen. Eine Sparmaßnahme, sozusagen.
"Obwohl, ich war schon im Jahr 2009 so weit, dass ich angefangen habe mit Führungen, mit Beratungen vor Ort, mit Seminaren usw. Das habe ich gesagt, aber das war alles sinnlos."
Anlass für die Entscheidung war der Börsencrash 2008. Rückblende: Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war ein Edener Genosse nach Westdeutschland gegangen und hatte dort eine Zweigniederlassung, die Eden Waren GmbH, gegründet. Die Genossen im Osten waren damit Anteilseigner und am Gewinn beteiligt. Weil auch die SED-Regierung an diesen Devisen interessiert war, durften die Edener pro Kopf und Jahr 500 Mark West als Gewinnanteil kassieren.
Der genossenschaftseigene Betrieb wurde 1972 allerdings verstaatlicht und nach der Wende durch die Treuhand abgewickelt. 1991 wurde der Zweigbetrieb im Westen verkauft. Doch aus dem Erlös erhielt die Genossenschaft im Osten einen zweistelligen Millionenbetrag. Vorstandsmitglied Rainer Gödde, ein gebürtiger Edener, meint im Rückblick:
"Als dann unser Tochterbetrieb verkauft war, hat man sich dann entgegen der Gründungsphilosophie, auf die man sich mal berufen hat, hat sich zurückgelehnt, hat das Geld zinsträchtig angelegt und hat gesagt, wir leben jetzt als Genossenschaft von den Zinsen. Und dann kam die große Finanzkrise - und da war ein großer Teil unserer Geldanlagen flöten."

Die Leute in der Geschäftsführung sind keine "Edener"

Statt abzuwarten bis die Aktien wieder steigen, stieß der Vorstand sie ab. Die Genossenschaft hatte damit ihr Vermögen verloren. Was blieb, war ihr Eigentum am Grund und Boden. Einnahmen konnte sie nur noch aus dem Verpachten ihrer Grundstücke erzielen. Seither, meinen viele Bewohner, zähle nur noch der Profit.
"Das ist das, wenn Vorstand und Aufsichtsrat und die Mitglieder nicht zusammen harmonieren. Und das fehlt im Augenblick hier ganz toll. Das hat sich geändert, seitdem wir oben in der Geschäftsführung Leute haben, die nicht mehr Edener sind",
sagt Ingrid Hedicke, die lange selber im Vorstand saß.
"Dann hat man immer versucht zu helfen. Nicht so wie heute: "Gehen Sie zum Rechtsanwalt, der macht das": Wir selber haben geholfen. Und das wünschte ich mir heute, dass die Leute von diesem Gedanken beseelt sind, der hier mal Grundlage der Gründung war."
Alexander Schatjajew leistet in diesem Sinn nun ehrenamtlich Gartenhilfe.
"Mit dieser Genossenschaft habe ich keinen Kontakt, überhaupt nicht. Weil ich möchte keine Zeit verlieren, um jemanden zu überzeugen, diskutieren, streiten. Diese Konzepte, Umwelt- Gesundheitsgarten, verfolgen wir in unserem Garten. Ich bekomme sehr oft Anrufe, Besucher, Ratsuchende, das passiert pausenlos."

Sorge um den einzigartigen Charakter der Siedlung

Einen Kindergarten gibt es in Eden noch immer und eine Freie Schule. Dazu inzwischen auch eine Musikwerkstatt, eine Praxis für Physiotherapie sowie ein Ärztehaus mit Zahnarzt und Internistin.
In den Kindergarten und die Schule gehen auch viele Kinder von außerhalb der Siedlung. Trotzdem hat der Vorstand die Hälfte des Schulgartens für Bauland verpachtet. Schule und Poststelle müssen nun Miete zahlen. Rainer Gödde vom Vorstand führt Sachzwänge an:
"Eine Nebenfolge ist von den Schwierigkeiten der letzten Jahre, dass das Finanzamt gesagt hat, wir entziehen der Genossenschaft die steuerliche Gemeinnützigkeit. Das war der letzte Punkt, wo wir als Gremium gesagt haben, wir müssen unsere Grundstücksbewertung neu in die Hand nehmen. Wo wir einen Erbbauzins jetzt ermittelt haben, der wirtschaftlich ist, von dem die Genossenschaft überleben kann."
Der Erbbauzins, den Pächter für ein Grundstück in Eden bezahlen, ist dennoch nach wie vor verhältnismäßig niedrig. Und zieht damit auch Menschen an, die mit der Philosophie der Lebensreformbewegung nichts gemein haben. Neben den alten Häusern mit Obstbäumen und Gemüsebeeten stehen inzwischen Fertigbauhäuser, vor einigen Türen liegen sogar Rollrasen. Viele Bewohner sorgen sich, der einzigartige Charakter ihrer Siedlung könnte für immer verschwinden.
Karin Kasböck: "Es gibt so tolle, sehr alte Menschen hier. Wir haben in unserem Verein 70-, 80-jährige Personen, die sehr aktiv sind und diesen Geist noch in sich haben. Während die Kinder von denen zum Teil anders denken."
Beim Kulturfestival RE:EDEN im September wurde jedoch auch deutlich, dass der Zusammenhalt der Gemeinschaft, den viele so sehr vermissen, noch immer lebendig ist:
"Was wir geschafft haben, ist dieses Jahr, dass auch viele Personen, die sich hinter ihre Hecke zurückgezogen haben, dass die wieder hervorkommen. Und merken: Jetzt ist wieder eine Energie da, jetzt könnte etwas bewegt werden."
*) Anmerkung der Redaktion: Wir hatten Wilhelm Groß versehentlich einen Mitgründer der Obstbaumkolonie genannt, was nicht zutrifft. Wir haben das an dieser Stelle korrigiert.
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