Opioid-Epidemie in den USA

Die betäubten Staaten von Amerika

Ein Polizist aus Philadelphia hält eine Packung mit einem Gegenmittel bei Opioid-Vergiftungen in der Hand. Die werden im ganzen Land verteilt.
Ein Polizist aus Philadelphia hält ein Gegenmittel bei Opioid-Vergiftungen in der Hand. © AFP / Dominick Reuter
Von Marc Hoffmann · 02.11.2017
Millionen Amerikaner sind süchtig, im Schnitt sterben jeden Tag 91 von ihnen an einer Überdosis Opioide. Dabei betrifft die Drogenepidemie nicht nur Heroin-spritzende Junkies in Großstadtghettos, sondern auch die weiße Mittelschicht in adretten Vororten.
Das Champ Haus steht abgeschieden. Das holzverkleidete Haus ist von satt-grünem Rasen und mächtigen Bäumen umgeben. Auf der Veranda weht die US-Flagge leicht im Wind.
Steve Clark, ein freundlicher Mann mit grauem Kinnbart zeigt stolz auf die hellgelben Außenwände. Vor drei Wochen hat er sie streichen lassen. Vorher war alles braun, das machte nur depressiv, sagt Steve. Für die Bewohner dieses Haus macht das einen großen Unterschied. 15 Drogensüchtige auf Entzug leben hier zusammen. Ausschließlich Männer.

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Vor 15 Jahren begann die Drogenepidemie

Hier in dieser Idylle, am Rande der US-Kleinstadt Bowie im Bundesstaat Maryland, versuchen sie gemeinsam die Sucht zu besiegen. Steve hilft ihnen dabei. Der Rentner leitet das gemeinnützige Projekt. Er weiß, was die Männer hier durchmachen müssen. Steve ist selbst einmal schwerer Alkoholiker gewesen. Vor knapp zwanzig Jahren ist er ins Champ Haus gekommen. Doch dann haben immer mehr Drogensüchtige an die Tür geklopft. Als die USA vor gut 15 Jahren in eine beispiellose Drogenepidemie schlittern, haben sie auch im Champ Haus begonnen, Drogensüchtige aufzunehmen.
"Ich arbeite mit ihnen. Wenn die Sucht sie einmal gefangen genommen hat, ist es so schwer wieder aufzuhören. Es muss immer mehr sein. ‚Mehr‘ ist die Lösung für die Süchtigen. Wir versuchen sie also dahin zu bekommen, dass sie sich selbst wohlfühlen, dass sie emotional ausgeglichener sind, damit sie aufhören sich diese Stoffe zu verabreichen. Aber das ist so schwierig mit den Opioiden. Die sind so stark und unheimlich. Das ist mittlerweile eine gewaltige Herausforderung."
Im Durchschnitt sterben jeden Tag 91 US-Amerikaner an einer Opioid-Überdosis. So die offizielle Statistik. Sie spritzen Heroin, schlucken Pillen, sie besorgen sich hoch wirksame Medikamente für den entscheidenden Kick. Ihr Körper giert nach den Suchtstoffen, den Opioiden, ob sie wollen oder nicht.
Die letzte Hoffnung: Einrichtungen wie das Champ Haus, hier von den teuflischen Substanzen dauerhaft wegzukommen. Jeder Tag ist eine Herausforderung, sagen sie hier. Es gibt schlechte Tage, und bessere.

"Das Leben im Entzug ist besser als die letzten 20 Jahre"

Für Dave ist dieser milde Sonnentag ein guter. Dave trägt ein Football-Shirt seiner Lieblingsmannschaft, den Baltimore Ravens. Mit seiner roten Gitarre sitzt der 46-Jährige vor dem gelb gestrichenen Haus. Die Augen zugekniffen. Seine schmalen Finger tanzen über die Saiten.
Mann mit lila Shirt, spielt Gitarre.
Dave, 46, seit 20 Jahren abhängig von Schmerztabletten.© ARD Washington, Marc Hoffmann
"Weißt du, das Leben hier im Entzug ist sehr viel besser als alles, was ich in den vergangenen zwanzig Jahren während meiner Sucht je erlebt habe. Ich bin jetzt wieder aktiv. Ich habe zum ersten Mal wieder ein soziales Leben, so wie früher, als ich normal gearbeitet und mich immer auf die Wochenenden gefreut habe."
Trotzdem: Gelassen wirkt Dave selbst an solch einem sonnigen Tag nicht so recht. Er schaut konzentriert, etwas verbissen. Man merkt, er will alles gut und richtig machen. Vor einem Jahr hat Dave die Notbremse gezogen. Nach einer Entgiftungskur im Krankenhaus hat er nach Unterstützung gesucht und sie hier in Bowie gefunden, in dem kleinen Ort etwa eine Autostunde südlich von Baltimore. Weil einer der wenigen Plätze in der ungewöhnlichen Entzugs-WG frei geworden ist, konnte er einziehen.
Bei Dave sind es die Pillen. Schmerztabletten auf Rezept, von denen er versucht loszukommen.
Die Falle schnappte vor mehr als zwanzig Jahren zu. Dave liegt damals im Krankenhaus. Am Anfang steht der höllische Schmerz.
Ein Blutgerinnsel fesselt ihn ans Bett. Gegen die qualvollen Schmerzen wollen ihm die Ärzte Schmerztabletten geben.
"Sie haben mir verschiedene Fragen gestellt. Ob ich zur Abhängigkeit neige und ob ich sicher sei, dass ich diese Opioide für eine längere Zeit nehmen könne. Ich habe damals in einer Apotheke gearbeitet, ich habe gesagt: Klar kann ich damit umgehen. Kein Problem. Ich trinke nicht. Ich rauche nicht. Ich habe die Schmerzmittel genauso eingenommen, wie sie verschrieben wurden."
Die Tabletten erfüllen ihren Zweck. Sie betäuben seine Schmerzen. Es geht bergauf. Dave erzählt, dass er damals stark übergewichtig ist. Ein Pfundskerl, aber keineswegs träge. Er hat einen Job, Freunde, ist voller Energie.

"Diese Drogenkrise ist vor allem eine Opioid-Krise"

Das Blutgerinnsel bildet sich langsam zurück. Dank der Medikamente kann er seine Schmerzen kontrollieren, kann wieder stehen und gehen. Nach fünf Monaten möchte er wieder zurück ins Büro. Dave ist motiviert. Er spürt neue Lebensenergie. Am Abend vor dem ersten Arbeitstag schluckt er, wie geplant, die letzte Pille.
"Am nächsten Tag ist es mir total dreckig gegangen. Mir ist kotzübel gewesen. So schlimm habe ich mich noch nie in meinem Leben gefühlt. Mir ist schwindelig gewesen, mein ganzer Körper hat wehgetan, ich habe wahnsinnig geschwitzt. Ich habe gezittert, ich musste mich übergeben und habe zur selben Zeit Durchfall gehabt. Es ist schrecklich gewesen. Es ist schwer, das in Worte zu fassen. Es war schlimm. Ich erinnere mich, ich bin ins Krankenhaus gegangen. Ich habe gedacht, ich muss sterben."
Die Ärzte in der Notaufnahme versuchen ihm zu helfen und greifen in der Not zu starken Schmerzmitteln. Die Schmerzen, wie weggeblasen.
"An diesem Punkt habe ich gemerkt: Ich bin süchtig nach Schmerzmitteln."
Daves Leben folgt plötzlich einem neuen Takt. Den geben die Tabletten vor. Zunächst sind es drei am Tag. Ohne seine tägliche Pillenration würde er keinen einzigen Tag überstehen, erzählt er. Dave hängt am Haken der Opioide. Und mit ihm Millionen andere US-Amerikaner. Einige von ihnen kommen nie mehr los.
"Wir haben noch nie zuvor so viele Tote gesehen. Selbst in den Siebzigern hat es nichts Vergleichbares gegeben. Diese Drogenkrise ist vor allem eine Opioid-Krise. Mit Schmerzmitteln auf Rezept, Heroin und synthetischen Drogen wie Fentanyl."
US-Justizminister Jeff Sessions spricht von realen und spürbaren Konsequenzen. Die letzten offiziellen Zahlen der US-Regierung sind aus dem Jahr 2015. Im Durchschnitt kommen regelmäßig etwa genauso viele Menschen durch eine Opioid-Überdosis um wie im Straßenverkehr oder durch Waffengewalt. Rund 33.000 Amerikaner im Jahr. Seit 1999 ist diese Zahl gerade zu explodiert. Heute sterben viermal so viele Menschen an Heroin, an starken Schmerzmitteln auf Rezept oder dem hochwirksamen Betäubungsmittel Fentanyl.
Eine Frau nimmt Tabletten.
Eine Frau nimmt Tabletten.© imago / photothek
Die US-Behörden müssen umdenken. Es geht plötzlich nicht mehr nur um abgemagerte Junkies, die in dunkeln Seitenstraßen herumlungern und ihrem nächsten Schuss entgegensehen. Süchtig sind sie auch in den schmucken, bürgerlichen Wohnvierteln. Amerikas Drogenepidemie hat die weiße Mittelschicht fest im Griff. Egal ob jung oder alt.

"Wir nennen das doctor shopping oder auch Ärzte-Hopping"

Schmerzmittel spielen die entscheidende Rolle in der Drogen-Krise. Chuck Rosenberg von der Drogenfahndungsbehörde:
"Vier von fünf, die das erste Mal Heroin nehmen, haben mit Tabletten auf Rezept angefangen. Und in den Vereinigten Staaten kommen jeden Tag 600 Heroinabhängige dazu, was bemerkenswert ist!"
Vier von fünf! Wer süchtig ist, kommt nicht mehr so einfach los. Wenn der Hausarzt den Nachschub verweigert oder die legalen Pillen aus dem Apothekerschränkchen keinen Kick mehr geben, dann greifen Amerikas Süchtige zu dem, was die Straße hergibt: Heroin und andere chemische Mischungen. Aber am Anfang stehen die Schmerztabletten auf Rezept.
Dave, der 46jährige mit dem Football-Trikot und der Gitarre erzählt, wie die Pillen sein Leben diktiert haben.
"Plötzlich geht es darum, deinem Doktor zu erklären, dass du mehr Schmerzmittel brauchst. Ich bin dann zu einem anderen Arzt gegangen. Ich habe ihm von meinen Rückschmerzen erzählt und er hat mir Schmerztabletten verschrieben. Wir nennen das doctor shopping – oder auch Ärzte-Hopping. Ich bin dazu übergegangen verschiedene Ärzte mit unterschiedlichen Geschichten aufzusuchen. So habe ich all die Medikamente und Rezepte bekommen."
Heute ist er weg von den gefährlichen Pillen. Der Entzug hat bisher geklappt. Doch an die Jahre der Sucht erinnert er sich ganz genau.
"Ich habe meinem Arzt erzählt, dass ich mehr Schmerzen hätte und dass ich daher mehr Tabletten bräuchte. Ich wollte die Qualen auf keinen Fall noch einmal durchstehen müssen. Schon beim geringsten Anflug von Übelkeit habe ich mehr Pillen geschluckt als ich sollte – einfach, um das nicht noch einmal durchmachen zu müssen."

"Das ist wirklich harte Arbeit, dass alles glatt geht"

Und die Ärzte spielen zunächst mit. Daves Lügengerüst hält mehrere Jahre.
"Das ist wirklich harte Arbeit, dass alles glatt geht. Und ich habe auch Notfallpläne entwickelt, wenn ein Doktor ‚Nein‘ sagt. Ich habe immer versucht, das System zu manipulieren, damit ich etwas bekomme."
Was auffällt: Die Ärzte sind in seinen Erinnerungen nicht diejenigen, die ihm das alles eingebrockt haben. Dave sieht zuallererst sich selbst in der Verantwortung.
Dabei hat die Ärzteschaft in den USA bereits eingesehen, dass sie ihren entscheidenden Teil zur Opioid-Krise beigetragen hat.
Dr. Eric Strain von der medizinischen Fakultät der Johns Hopkins Universität in Baltimore - er leitet das Forschungszentrum zur Behandlung von Drogenmissbrauch. Dr. Strain sitzt in einem engen, fensterlosen Konferenzzimmer und holt zu einem langen Erklärungsversuch aus.
Dr. Strain warnt vor zu schnellen Rückschlüssen und simplen Erklärungen. Er sieht verschiedene Ursachen, die sein Land in diese Drogen-Epidemie geführt haben. Und ja, seine Kollegen in den Praxen und Kliniken haben wohl zu leichtsinnig Schmerzmittel verschrieben, gibt Strain zu.
"Früher hätte ein Arzt vielleicht andere Medikamente verschrieben wie etwa Ibuprofen. Doch heutzutage behandeln wir Schmerzen mit Opioiden sehr viel aggressiver. Es hat in diesem Land in den 1990er Jahren einen regelrechten Schub gegeben unter den Ärzten und im Gesundheitswesen. Sie haben nicht mehr so viele Bedenken gehabt, dass Menschen die Opioide auf Rezept missbrauchen könnten."

Die einflussreiche Pharmaindustrie will verkaufen

Der Kampf gegen Schmerzen. Auf einmal heißt es: Sie müssen nicht sein. Schmerzen können behandelt werden – dank wirkungsvoller Medikamente. In wissenschaftlichen Zeitschriften argumentieren Ärzte plötzlich, dass man über Generationen hinweg das Leiden vieler Patienten außer Acht gelassen habe. Das sollte sich ändern. Sie läuten ein neues, schmerzfreies Zeitalter ein.
Ein weiterer Faktor aus Sicht von Dr. Strain von der Johns Hopkins Universität: Die einflussreiche Pharmaindustrie, die ihre neuesten Schmerzmittelprodukte verkaufen will. Im Internet findet man einen Ausschnitt eines Werbevideos aus den Neunzigern. Im Jahr 1998 hat das Pharmaunternehmen Purdue Pharma eine eigene Dokumentation produziert, um vor allem Ärzte von den Vorteilen starker, opioider Schmerzmittel zu überzeugen und so ihr eigenes Produkt OxyContin salonfähig zu machen.
"Tatsache ist: Unter den Schmerzpatienten, die sich in ärztlicher Behandlung befinden, liegt der Anteil der Süchtigen deutlich unter einem Prozent. Die Patienten fühlen sich nicht ausgelaugt, sie gehen arbeiten, sie leiden an keinen ernsthaften Nebenwirkungen. Ich wiederhole, die Medikamente sind die besten und stärksten Schmerzmittel und sie sollten bei Schmerzpatienten viel häufiger angewendet werden."
Was der Arzt Alan Spanos hier im Marketing-Clip von Purdue Pharma vor knapp zwanzig Jahren behauptet: Neuartige, opioide Schmerzmittel wie das eigene Produkt OxyContin würden kaum abhängig machen. Es könnte also im größeren Stil eingesetzt werden. Zahlreiche medizinische Studien haben dies mittlerweile widerlegt. Und eine Reihe von US-Bundesstaaten ist wegen solcher Behauptungen mittlerweile vor Gericht gezogen. Sie haben gegen mehrere Schmerzmittel-Hersteller geklagt. Die Staatsanwälte werfen ihnen vor, sie hätten von der Suchtgefahr gewusst und ihr aggressives Marketing auf Lügen aufgebaut.
Mann halbtotal steht auf dem Rasen an einem Schild
Steve Clark vor dem Champ-House-Schild© ARD Washington / Marc Hoffmann
Für die Abhängigen kommt das alles zu spät: Purdue Pharma und andere Arzneimittelhersteller haben seit den Neunzigern Millionengewinne eingefahren. Die Rechnung dafür zahlen Amerikaner wie Dave, die von dem Zeug süchtig geworden sind.

Nicht jeder Mensch ist gleich gefährdet

Doch der Mediziner Dr. Eric Strain betont auch: Nicht jeder Mensch ist gleich gefährdet, süchtig zu werden. Die psychologische Verfassung spiele eine entscheidende Rolle, erklärt er. Wie sieht die persönliche Vorgeschichte aus? Gibt es Ängste oder ungelöste Konflikte?
Darüber redet Dave kaum. Über seine Mutter zum Beispiel. Als es ihm noch gut geht, lange bevor Dave in den Entzug kommt, wohnt er mit ihr zusammen. Dann stirbt sie.
Da sind außerdem die vielen Krankenhausaufenthalte und Operationen in Daves Leben. Immer wieder die wahnsinnigen Rückenschmerzen. Sein Übergewicht... Ob das eine Rolle spielt, muss Dave selbst ergründen. Im Champ Haus, in der Entzugs-Wohngemeinschaft wird erwartet, dass sie sich mit ihrer Vergangenheit und ihrer Persönlichkeit auseinandersetzen. Jeden Abend nach dem Essen kommen Dave und seine vierzehn Mitbewohner zusammen und reden.
In zwölf Schritten sollen die Mitglieder sich selbst erforschen, ihr Verhalten hinterfragen, Fehler erkennen und so das eigene Leben stückchenweise ändern. Clean sein bedeutet noch lange nicht, dass man auch im Alltag wieder klar kommt, erklärt Steve Clark. Als Leiter des Champ Hauses hat er viele Männer scheitern sehen. Erst wenn sie ihre Körper vom zerstörerischen Gift befreit haben, erst dann können die Männer beginnen, sich um ihr eigentliches Leben zu kümmern. Im Champ Haus hilft Steve ihnen.
"Oft kommen die Männer zu uns und haben keine Geburtsurkunde mehr. Dann besorgen wir zusammen eine neue. Damit können sie dann einen Führerschein beantragen, damit sie Auto fahren können, und so weiter."
Im Gegenzug gelten strenge Regeln. Ordnung, Sauberkeit und feste Mahlzeiten. Alkohol und andere Drogen sind absolut tabu. Bei den täglichen Gesprächsrunden haben Handys nichts zu suchen. Und: Jeder Bewohner ist verpflichtet, sich um einen Job kümmern, so schnell wie möglich.
Steve steigt vorsichtig eine schmale Treppe zum Keller hinab. Man muss aufpassen, dass man sich nicht den Kopf stößt.
Hier unten schlafen acht Männer zusammen in einem großen Zimmer. Jeder hat sein Bett und ein Schränkchen für die wenigen persönlichen Dinge und Kleidung. An einigen Schranktüren hängen Familienfotos. Die Betten sind gemacht. Es ist aufgeräumt. Nach spätestens zwei Monaten bekommt jeder Bewohner ein Einzelzimmer.
zwei Männer stehen in der Küche, halbtotal.
In der Küche des Champ Hauses: Leiter Steve Clark (links) mit Rusty Bakalar, dem Hausmeister, Mentor und Koch der WG© ARD Washington / Marc Hoffmann
Es riecht etwas modrig. Der Teppich ist abgewetzt. Es ist eine Geldfrage. Gerne würde Steve den Schlafraum komplett renovieren, wenn er genug zusammen hat. Jeder Mitbewohner muss 150 Dollar Miete pro Woche zahlen. Ansonsten ist die gemeinnützig organisierte Wohngemeinschaft auf staatliche Zuschüsse und Spendengelder angewiesen. Auch die Verantwortlichen im Bundesstaat Maryland und im Landkreis sind mittlerweile aufgewacht. Mit Zuschüssen helfen sie, das fast vierzig Jahre alte Wohnhaus zu renovieren.

"Trotzdem bin und bleibe ich süchtig"

In der Küche hat Rusty Bakalar schwer zu tun. Der 56-Jährige mit den kurzen grauen stoppligen Haaren hat sich eine schwarze Schürze umgebunden und schnippelt Karotten und Kartoffel. Farbige Tattoos leuchten an seinen beiden Unterarmen.
Frisches Gemüse statt Tiefkühlpizza. Jeden Abend bereitet Rusty einen Salat zu. Vor vielen Jahren kam er hierher, um sein Drogenleben hinter sich zu lassen. Eigentlich hat er es geschafft. Sein Leben hat Rusty wieder im Griff. Trotzdem ist der gelernte Elektromeister bis heute im Champ Haus geblieben und hilft nun als eine Art Hausmeister, Mentor und eben als Koch für fünfzehn hungrige Männer.
"…und trotzdem bin und bleibe ich süchtig. Nur eine Pille würde meine Psyche verändern und mein Körper würde heftig reagieren. Selbst wenn ich die Pillen so nehmen würde, wie sie der Arzt verschrieben hat."
Der Alkohol und Medikamente im Überfluss haben Rustys Körper zerstört. Wie viele der Männer hier sieht er älter aus, als er mit seinen 56 Jahren ist.
Rusty kämpft gegen ein gängiges Vorurteil: Dumm seien sie nicht. Eigentlich sogar sehr intelligent. Nur: Für Suchtkranke sei es bloß so schwer ‚Nein‘ zu sagen, meint Rusty.
Und die allermeisten packen es tatsächlich nicht. Zwischen 60 und 70 Prozent der Bewohner sind rückfällig. Viele Männer brauchen mehrere Anläufe. Einige sind bereits zum fünften Mal hier.
Rusty will die Hoffnung nicht aufgeben.
Auf der Küchentheke steht das Foto von Cody. Auf dem Bild trägt er eine Sonnenbrille, die seine Augen versteckt. Er hat hier gewohnt, erzählt Rusty. Sein Urintest hat gezeigt, dass Cody rückfällig geworden ist. Rusty musste ihn wegschicken. So sind die Regeln. Monate später geht Rusty auf Codys Beerdigung.
Dave dagegen hat es vorerst geschafft. Anfang Oktober überreichen ihm Steve und Rusty eine Urkunde. Denn nach elf Monaten im Haus hat Dave das 12-Stufen-Erholungsprogramm erfolgreich beendet.
"Im Endeffekt weiß ich jetzt, dass die Antwort auf all meine Probleme stets eine chemische Antwort gewesen ist. Eine Pille oder einen Drink, den ich nehmen konnte, um die schlechten Dinge verschwinden zu lassen. Du verscheuchst den Schmerz, verdrängst ihn, so dass du dich besser fühlst. Aber das ist ja überhaupt nicht der Fall. Weißt du, ich habe erst wieder lernen müssen, das Leben so wahrzunehmen, wie es nun einmal ist…, das Leben durch andere Menschen erfahren, in der Gemeinschaft mit anderen, oder indem ich zum Beispiel auf meiner Gitarre spiele. Ich gebe einigen anderen hier Gitarrenunterricht. Weißt du, das ist, was ich brauche. Das erfüllt mich. Zuvor haben dies immer die Medikamente getan."
Dave schmiedet Zukunftspläne. Er will das Champ Haus in der Kleinstadt Bowie verlassen und sich eine eigene Wohnung suchen. Alles auf Anfang. Er will diese neue, hart erarbeitete Chance nutzen. Dave weiß aber auch: Das Risiko eines Rückfalls wird ihn für den Rest seines Leben begleiten.
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