"Opferschutz geht vor Täterschutz"

Bernd Busemann im Gespräch mit Nana Brink · 08.02.2011
Niedersachsens Justizminister Busemann (CDU) will die bisherige Praxis der nachträglichen Sicherungsverwahrung beibehalten. Es dominiere das Interesse der Allgemeinheit, vor gefährlichen Straftätern geschützt zu werden.
Nana Brink: Nicht nur die Gerichte, auch die deutsche Öffentlichkeit reagierte geschockt, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kürzlich die Sicherungsverwahrung in Deutschland als, Zitat; "menschenrechtswidrig" gerügt hatte. Es geht um die Frage, ob und wann Straftätern nach der Verbüßung ihrer Haftstrafen weiterhin in Sicherungsverwahrung bleiben. Vier Männer, vier Straftäter hatten geklagt, und heute wird sich das Bundesverfassungsgericht mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung beschäftigen. Das Verfahren wird maßgeblich sein, denn bislang konnten sich deutsche Gericht nämlich nicht einigen, ob Straftäter entlassen werden müssen oder nicht. Am Telefon ist jetzt Bernd Busemann, CDU-Justizminister in Niedersachsen, einen schönen guten Morgen, Herr Busemann!

Bernd Busemann: Ja, guten Morgen!

Brink: Sie haben gesagt, ich werde mich mit Händen und Füßen wehren, sodass wir niemanden freilassen, der noch gefährlich ist. Auch nicht, wenn es gegen das Urteil des Europäischen Menschengerichtshof verstößt?

Busemann: Also ich habe mir diesen Konflikt auch schon über das ganze letzte Jahr mehrfach deutlich gemacht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich festgelegt und sagt, diese nachträgliche Sicherungsverwahrung oder auch nachträglich verlängerte Sicherungsverwahrung, wie Deutschland das seit Jahren macht, sei nicht mit den Menschenrechten konform und deswegen müsse man sich davon trennen. Was manche dann so ausgelegt haben, dann muss man diese Leute … Es geht dabei vor allem um einen Personenkreis, der vor 98 die Tat begangen hat, verurteilt worden ist, wo dann auch zehn Jahre Sicherungsverwahrung – damalige Rechtslage – abgelaufen sind, der dann in die Sicherungsverwahrung geraten ist. Ich habe in der Tat damals, schon zu Beginn des Jahres 2010 gesagt, ich werde mich mit Händen und Füßen dagegen wehren. Das klingt ein bisschen martialisch, hat aber gleichwohl einen rechtlichen Kern. Denn ich bin der Auffassung, dass die Frage der nachträglichen Sicherungsverwahrung eine Frage unseres Grundgesetzes und der Auslegung unseres Grundgesetzes ist, und da ist oberste Gerichtsbarkeit das Bundesverfassungsgericht, auf dessen Entscheidung ich jetzt warte.

Brink: Aber das Bundesverfassungsgericht hat auch 2009 – Sie haben das erwähnt – gesagt, ja, es ist zuträglich, die Frage ist, ob eine nachträgliche Sicherungsverwahrung zulässig ist, wenn zum Beispiel eine Tat noch nicht begangen worden ist. Das ist ja der Kern der Rüge.

Busemann: Die nachträgliche Sicherungsverwahrung koppelt immer an einer Tat im Vorfeld an, die auch zu einer Verurteilung geführt hat, auch zu einer langfristigen Verurteilung geführt hat, wo man dann entweder eine Sicherungsverwahrung verhängt hat … Bis 1998 hatten wir eine Rechtslage, das geht bis zehn Jahre, und dann hat die deutsche Gerichtsbarkeit diese zehn, erst mal die Rechtsetzung, aber auch die Gerichtsbarkeit, diese zehn Jahre verlängert. Es gibt auch wenige Fälle, wo man dann durch spätere Entscheidung gesagt hat, nein, auch wenn wir im Ersturteil nicht gesagt haben, Sicherungsverwahrung, darf jetzt nachträglich sicherungsverwahrt werden zum Schutz der Allgemeinheit. Und zum Bundesverfassungsgericht: Deswegen bin ich auch gespannt auf den Entscheidungsverlauf. Dieses hat 2004 in einer Grundsatzentscheidung – jedenfalls für mich ist das eine Grundsatzentscheidung gewesen – ausdrücklich gesagt, die nachträgliche Sicherungsverwahrung, die der deutsche Gesetzgeber beordnet hat und die dann auch die Gerichte umgesetzt haben, ist verfassungskonform. Und es hat auch in der jüngeren Vergangenheit das eine oder andere Verfahren im einstweiligen Rechtsschutzbereich gegeben, wo man zumindest nicht davon abgerückt ist. Aber klar ist auch, deswegen habe ich auch gemahnt, Karlsruhe müsse endlich sprechen: Hier gibt es einen Widerspruch zwischen Europäischem Gerichtshof und Menschenrechte und bisheriger Rechtsprechung deutsches Bundesverfassungsgericht, auch innerhalb des BGH übrigens spürbar, und jetzt brauchen wir einfach Klarheit.

Brink: Damit wir ein bisschen über die Zahlen auch reden: 30 Täter kamen in den vergangen Monaten raus, 20 sind noch in nachträglicher Sicherungsverwahrung. Sie sagen also, diese Sicherungsverwahrung ist zusätzlich, Opferschutz geht vor Täterschutz?

Busemann: Also das ist völlig klar, da scheint mir auch der Grundkonflikt zu liegen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sagt von seiner Grundhaltung her, ihr drückt den Leuten, die irgendwann eine Tat begangen haben, eine schwere Tat, die auch verurteilt worden sind, die auch bis zehn Jahre zum Beispiel Sicherungsverwahrung verbüßt haben, ihr drückt denen nachträglich durch Zeitverlängerung entsprechend eine weitere Strafe auf, und das darf nicht sein. Im Kern kann ich so was sogar nachvollziehen, aber hier dominiert ein anderer Gesichtspunkt, der zumindest bislang vom Bundesverfassungsgericht vorangestellt wurde, dass wir nämlich zum Schutz der Allgemeinheit sagen: Wenn wir Täter haben, die möglicherweise oder nach gutachterlicher Erklärung sicherlich gefährdet sind, dann dominiert nicht das Individualinteresse des früheren Täters, sondern es dominiert das Interesse der Allgemeinheit, geschützt zu werden vor rückfallgefährdeten zum Beispiel Sexualstraftätern.

Brink: Also ganz klar Opferschutz vor Täterschutz?

Busemann: Opferschutz geht in dem Fall für mich eindeutig vor Täterschutz, und ich baue dabei auch unverändert auf das Bundesverfassungsgericht. Zu den Zahlen will ich Ihnen noch bedeuten: Die sind nach meiner Auffassung etwas anders gelagert. Wenn ich also die niedersächsischen Zahlen mal hochrechne, haben wir im Bereich der nachträglichen Sicherungsverwahrung zur Stunde, was dann zu entlassen wäre, wenn die Zehnjahresfrist das Optimum des Möglichen ist, haben wir bundesweit etwa 100 Leute, in der Warteschleife noch mehrere Hundert Leute, davon sind – das kann ich nicht ganz verifizieren – ich sage mal vage zwischen 20 und 50 bereits entlassen worden. Es wäre eine größere Anzahl von Personen hier in Betracht zu ziehen und wir haben es ja an einigen wenigen Einzelfällen jetzt schon bemerkt, dass das zum Teil, wenn Rückfallgefährdung besteht, mit erheblichen Polizeiaufgeboten in der Öffentlichkeit verrichtet werden müsste.

Brink: Wo ist denn dann die Sicherheitslücke Ihrer Meinung nach im System?

Busemann: Die Sicherheitslücke im System ist vielleicht eine historisch gewachsene. Natürlich, sagen wir mal Instrumente wie Sicherungsverwahrung in Deutschland gehen zurück sogar bis in die Vorkriegszeit, die hat sich dann nach Gründung der Bundesrepublik in unserem Strafgesetz entsprechend weiterentwickelt, und ich glaube, dass der Gesetzgeber in den Jahren auch vor 1998 so ein bisschen zu kurz gegriffen hat, indem er bemessen hat, ja, Sicherungsverwahrung muss wohl sein bei rückfallgefährdeten Leuten, aber dann bitte nicht mehr als zehn Jahre. Aber dann hat man nicht erkannt, dass zehn Jahre schnell rum gehen und manch einer nach zehn Jahren eben nicht erfolgreich therapiert ist, sondern noch rückfallgefährdet ist. Und da zieht sich das durchgängig. Und ich glaube, dass wir als Gesetzgeber wie auch als Rechtsprechung hier zehn, 20 Jahre möglicherweise die Dimension des Problems nicht erkannt haben und nicht an entsprechenden Regelungen zeitnah gearbeitet haben.

Brink: Wie sollen denn diese Regelungen aussehen, geben Sie uns ein Beispiel?

Busemann: Also ich würde durchaus auch die nachträgliche Sicherungsverwahrung, wenn verfassungskonform, davon gehe ich aus, durchaus beibehalten. Aber der Bundesgesetzgeber hat ja jetzt eine Neuregelung gemacht, wo er sagt, einverstanden, wenn der Fall geklärt ist, auch für Ersttäter kann die Sicherungsverwahrung gleich ins Urteil reingeschrieben werden, wo er sagt zweitens – auch einverstanden von meiner Seite –, wenn wir es nicht genau wissen, aber die Gefahr der Rückfallgefährdung besteht, dann kann auch vorbehaltene Sicherungsverwahrung ins Urteil hineingeschrieben werden, später gegebenenfalls angeordnet werden. Aber ich habe, und das habe ich auch während des Gesetzgebungsverfahrens immer deutlich gemacht: Das Instrument der nachträglichen Sicherungsverwahrung – sicherlich auf einige wenige ganz schwere Fälle dann anwendbar – sollten wir nicht aufgeben. Haben wir jetzt getan, wir müssen sehen, was die Zukunft da bringt, aber mich interessiert auch für die sogenannten Altfälle ganz nachhaltig jetzt die Entscheidung, der neue, vielleicht neue oder der alte Weg des Bundesverfassungsgerichts.

Brink: Bernd Busemann, CDU-Justizminister in Niedersachsen, schönen Dank für das Gespräch!

Busemann: Bitte sehr!
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